Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
Substanz namens Thiopental gefunden.«
Er schrieb den Namen auf.
»Was ist das für eine Substanz?«
»Ein sogenanntes Barbiturat. Es wird bei Operationen eingesetzt und sollte nur in Krankenhäusern oder Medikamentendepots zugänglich sein. Manchmal wird es auch von Veterinärmedizinern benutzt.«
»Wirkung?«
»Ein sehr effektives Anästhetikum für Vollnarkosen. Bei Überdosierung kommt es zu Atem- und Herzstillstand.«
Viken ließ sich tiefer in seinen Bürostuhl sinken. Er freute sich diebisch darüber, dass Agnes Finckenhagen mit absoluter Sicherheit davon ausgegangen war, dass hier kein Gewaltverbrechen vorlag. Im Stillen dachte er bereits daran, wen er zu den Ermittlungen hinzuziehen würde.
20
Dienstag, 9. Oktober
S igny Bruseter bog vor der Wohnanlage in Reinkollen um die Ecke und parkte ihren Wagen neben einem anderen Auto. Als sie den Motor abstellte, wurde auch die Stimme des Nachrichtensprechers abgewürgt. Doch als sie die Haustür aufschloss, kam es ihr so vor, als würde sie ihn immer noch hören, wie er über das berichtete, was in der Oslomarka passiert war. Signy hatte letzte Nacht schlecht geschlafen. Heute war der zweite Tag an ihrem neuen Arbeitsplatz.
Mette Martin, die Behindertenpflegerin und Leiterin der kleinen Einrichtung mit den drei Wohnungen, begegnete ihr im Flur. Signy war froh, sie zu sehen, weil Mette Martin so eine gesunde Selbstsicherheit ausstrahlte. Signy war fast zwei Jahre lang arbeitslos gewesen. Während des Vorstellungsgesprächs war sie davon ausgegangen, dass sie den Job als Assistentin nie und nimmer bekommen würde, und im Grunde war sie sogar froh darüber. Doch Mette Martin meinte, dass ihre mehrjährige Erfahrung mit Grundschulkindern sehr wertvoll sei und ihr helfen würde, auch mit geistig zurückgebliebenen Menschen zurechtzukommen. Schon am nächsten Tag hatte Mette Martin – zu Signys Entsetzen – angerufen und gefragt, wann sie beginnen könne.
»Hier ist alles still und friedlich«, sagte Mette Martin jetzt zu ihr. »Tora schläft, und Oswald sitzt in seinem Zimmer. Die Morgentoilette ist schon erledigt. Du bleibst bis zum Mittagessen mit ihnen allein, dann kommt Åse Berit und unterstützt dich bis zum Abend.«
Signy hängte ihren Mantel auf und setzte sich auf das Sofa.
»Oswald kriegt um neun seine Medizin«, sagte Mette Martin. »Aber lass das Radio nicht laufen. Das ganze Gerede über diesen wilden Bären macht ihn so nervös.«
»Das kann ich gut verstehen«, entgegnete Signy aufgeregt. »Hast du so was schon mal gehört? Eine erwachsene Frau von einem Bären angefallen! Und das nur wenige Kilometer von der Osloer Innenstadt entfernt.«
»Ja«, gab Mette Martin ihr recht. »Es ist wirklich kaum zu glauben.«
Nachdem Mette Martin gegangen war, klopfte Signy an Toras Tür und trat ein. Sie achteten darauf, stets anzuklopfen, obwohl Tora nicht antworten konnte und wohl auch nicht verstand, was das Klopfen sollte. Mette Martin betonte immer wieder, dass der Respekt eine Grundvoraussetzung für den gegenseitigen Umgang sei – was Signy außerordentlich gut gefiel. Mette Martin hatte zudem bemerkt, dass Tora im Leben nicht gerade das große Los gezogen habe. Wegen eines angeborenen Defekts war ihr Gehirn nicht so gewachsen, wie man es hätte erwarten können, und im Grunde war es merkwürdig, dass sie überhaupt noch am Leben war. Ihre Behinderung hatte sicher damit zu tun, dass ihre Mutter während der Schwangerschaft heroinabhängig gewesen war. Seit Signy in Reinkollen arbeitete, hatte Tora nicht ein einziges Mal Besuch bekommen. Keinen Menschen außerhalb dieser vier Wände kümmerte es, ob es sie gab oder nicht. Auch Signy hatte es nicht immer leicht, doch wenn sie dieses Mädchen sah, das sie umsorgte und ankleidete, spürte Signy, dass sie allen Grund zur Dankbarkeit hatte. Und als Tora frisch gewaschen und gekämmt in ihrem Rollstuhl saß, schob Signy sie auf den Flur und blieb vor dem Spiegel stehen.
»Hier kümmern wir uns um dich, Tora«, sagte sie mit sanfter Stimme.
Tora bewegte die Kiefer, als würde sie lachen, und stieß ein paar gurgelnde Laute aus. Das bedeutete, dass sie sich freute, hatte Mette Martin gesagt, und Signy war plötzlich ebenfalls von einer unbändigen Freude erfüllt und strich ihr über die Haare.
Gleich musste sie zu Oswald hineingehen. In der Nacht hatte es ihr davor gegraut, mit ihm allein zu sein. Oswald litt am Downsyndrom und war fast dreißig Jahre alt. Außerdem spielten seine Hormone
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