Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
schlängelte er sich durch die Tür, den Blick starr geradeaus gerichtet, und schwankte die ausgetretenen Stufen hinunter. Als er gerade auf die Straße treten wollte, wurde die Haustür von außen geöffnet. Er sprang zurück und verharrte regungslos im Zwielicht. Ein Mann trat ein, die Mütze tief in die Stirn gedrückt. Er zog einen Zeitungswagen hinter sich her. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke.
»Hallo«, sagte der andere mit ausländischem Akzent.
Axel drückte sich an ihm vorbei.
Am östlichen Himmel war ein heller, silberner Streif zu erkennen. Er sah auf die Uhr. Es war zehn nach fünf. Er eilte in Richtung Carl-Berners-Platz, ehe er bemerkte, dass dies der falsche Weg war. Er drehte um. Kein Taxi, dachte er. Niemand darf mich sehen. Wo soll ich nur hin?
Eine halbe Stunde später klingelte er an einer Haustür im Tåsenveien.
41
Dienstag, 23. Oktober, morgens
V iken stand auf der obersten Stufe und atmete schwer. Nicht dass ihn die paar Treppenstufen aus der Puste gebracht hätten, doch der Anblick dessen, was er bereits erwartet hatte und dennoch viel schlimmer war, löste ein akutes Bedürfnis nach Luft bei ihm aus. Außerdem waren die Ausdünstungen des toten Körpers nahezu unerträglich.
Nina Jebsen blieb eine Stufe unter ihm stehen. Er hatte sie von zu Hause abgeholt. Doch jetzt hätte er ihr den Anblick gern erspart. Die Tote – das, was von ihr noch übrig war – lag mit verdrehtem Kopf auf der Seite. Man konnte ahnen, dass sich ihr starrer Blick auf die Stufen richtete, auf denen sie standen, obwohl ihre Augen von verkrustetem Blut bedeckt waren. Von der unteren Gesichtshälfte verliefen tiefe Kratzspuren bis zu Schultern und Rücken hinab. Der eine Mundwinkel war aufgerissen. Die Zunge hing aus einer Öffnung der Wange.
Viken warf dem Beamten, der neben der Tür stand, einen Blick zu.
»Wohnt hier die Nachbarin, die die Zentrale alarmiert hat?«
Auf dem Namensschild unter der Klingel stand »Miriam Gaizauskas«.
»Ja, ihr Anruf ist vor …«, der Beamte blickte auf die Uhr, »zirka fünfundfünfzig Minuten registriert worden.«
»Was ist mit der Spurensicherung?«
»Ist noch nicht aufgetaucht.«
Ein Gedanke war Viken auf dem Weg nach oben durch den Kopf geschossen. Er drehte sich um und ging eine Etage nach unten.
»Nina!«, rief er.
Nina kam die schiefen Stufen hinunter. Sie war blass und hielt sich so krampfhaft am Geländer fest, als fürchte sie, die hölzernen Stufen könnten jeden Moment unter ihr nachgeben.
Viken zeigte auf das Türschild: »Hier wohnen Anita und Victoria Elvestrand.«
»Die vermisste Frau«, bestätigte sie.
Viken hastete wieder nach oben. Er hatte seine Fassung zurückgewonnen, lieh sich die Taschenlampe des Beamten und untersuchte den Boden um den verstümmelten Körper herum. Er wies nur wenige Blutspuren auf. Die Tat hatte sich offenbar nicht hier ereignet. Das Blut, das über den Boden gelaufen war, kam von den abgetrennten Beinen. Viken konnte deutlich einen Fußabdruck darin ausmachen.
Im selben Moment, in dem er im Treppenhaus die bekannte Stimme eines der Kriminaltechniker hörte, entdeckte er Spuren an Tür und Türrahmen. Er ging in die Hocke und leuchtete mit der Taschenlampe. Es waren fünf parallele Kratzspuren, die sich in das Holz eingeprägt hatten und nach unten verliefen.
»Was würdest du spontan dazu sagen, Nina?«
Sie ging neben ihm in die Hocke.
»Krallen«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Die Abdrücke einer großen Tatze.«
Miriam Gaizauskas saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa. Sie trug eine Jogginghose und einen dicken Pullover. Ihr Oberkörper schaukelte hin und her, während sie regungslos vor sich hin starrte.
»Sie haben also nichts gehört, ehe Sie versuchten, die Tür zu öffnen«, wiederholte Viken.
Sie schüttelte den Kopf.
»Hören Sie zu, Miriam«, begann Viken und spürte, dass Nina Jebsen ihm einen verwunderten Blick zuwarf. Sie war es offenbar nicht gewohnt, dass er eine Zeugin mit dem Vornamen ansprach. »Als Sie die Zentrale verständigten, war es siebzehn Minuten nach fünf. Können Sie uns verraten, warum Sie so früh schon auf den Beinen waren?«
Sie ließ ihren Blick von Viken zu Nina Jebsen schweifen. Ihre Pupillen waren weit geöffnet. Viken fragte sich, ob sie etwas genommen hatte oder nur unter Schock stand.
»Ich bin … früh aufgewacht. Konnte nicht mehr weiterschlafen. Dann hörte ich ein Geräusch unten an der Tür. Ich dachte, es sei der Zeitungsausträger.
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