Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
würde, sich von ihr zu befreien.
Er fragte:
»Fällt es dir leicht zu vergessen?«
Ihre Augenbrauen schossen nach oben und zitterten ein wenig. Sie antwortete nicht.
»Könntest du das vergessen, was wir zusammen erlebt haben, wenn ich dich darum bitte?«
Sie drückte sich an ihn.
»Du sagst das, als wäre alles bereits Vergangenheit.«
Er näherte sich dem, was er eigentlich sagen wollte, wich aber erneut aus und konzentrierte sich auf etwas Belangloses.
»Du hast einen Umschlag auf deinem Schreibtisch in der Praxis liegenlassen.«
Er erwähnte nicht, dass er ihn schon hatte öffnen wollen, um einen Blick in ihr Leben zu werfen. Ein Leben, über das er so wenig wie möglich wissen wollte.
»Bring ihn mit, wenn du das nächste Mal zu mir kommst«, sagte sie nachdenklich. »Falls du kommst.«
Erneut gab sie ihm die Möglichkeit, das zu sagen, was er sich vorgenommen hatte.
*
In der Ferne klingelt ein Telefon. Es ist für ihn, aber er kann nicht feststellen, woher das Geräusch kommt. Er liegt frierend auf dem Steinboden. Brede kommt die Treppe herunter. Es ist nicht Brede. Es ist Tom, der die Stufen hinuntergeht, Schritt für Schritt, und doch nie unten bei ihm am Treppenabsatz ankommt.
Axel öffnete im Dunkeln die Augen. Setzte sich auf. Er hörte Miriams ruhigen Atem. Konnte ihre Haare erahnen, die am Kopfende das Kissen umflossen. Die Bücher auf dem Regal nahmen Konturen an, das Foto des Offiziers in Marineuniform. Das einzige Foto, das er bei ihr gesehen hatte, vermutlich ihr Vater. Er hatte sie nicht gefragt. In diesem Moment fiel ihm ein, was er zu Miriam gesagt hatte, als sie schon fast eingeschlafen war:
»Eines Tages werde ich dir etwas von meinem Zwillingsbruder erzählen.«
»Eines Tages?«, hatte sie gemurmelt.
»Wenn ich das nächste Mal zu dir komme. Du wirst die Erste sein, die es erfährt. Was in jenem Sommer wirklich geschah, als Brede weggeschickt wurde.«
Es war zwei Minuten vor fünf. Er schlüpfte lautlos in seine Kleider. Im Flur hob er seine Schuhe auf. Nahm einen unangenehmen Geruch wahr und dachte, er käme von ihm selbst. Er öffnete die Wohnungstür einen Spaltbreit. Der Geruch wurde stärker. Er wollte die Tür weiter öffnen, doch etwas versperrte ihr den Weg. Mit Gewalt gelang es ihm, sie halb aufzuschieben. Und plötzlich wusste er, woran ihn dieser Geruch erinnerte: an die Pathologie, den Gestank einer Obduktion. Er schaltete das Licht im Eingangsbereich an. Es warf einen gelblichen Kegel bis zum Treppenabsatz. Dort lag eine Hand, ein Arm, aufgerissen und blutig. Er warf sich gegen die Tür und stolperte auf Socken in den Hausflur, trat in eine weiche, zähe Masse. Der Körper, der direkt vor der Tür lag, war nackt. Es war eine Frau. Ihr fehlten beide Beine. Die Haare waren von getrocknetem Blut verklebt, das Gesicht entstellt. Die Augen waren nicht zu erkennen. Er wich in die Wohnung zurück und knallte die Tür zu.
Aus der Schlafnische kam Miriams Stimme. Sie rief seinen Namen. Er schwankte zu ihr hinein.
»Wo warst du? Was ist das für ein Geruch? Warum sagst du denn nichts?«
Er räusperte sich.
»Es ist … wieder passiert.«
Sie sprang aus dem Bett.
»Was ist passiert?«
Seine Beine wollten einknicken. Er klammerte sich an den Stuhlrücken.
»Draußen … vor deiner Tür.«
Sie wollte dorthin, er hielt sie fest.
»Da liegt jemand, Miriam. Eine Frau.«
»Nein!«
»Sie ist … du darfst da nicht hingehen.«
»Anita«, flüsterte sie.
Er ließ sie los. Versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren.
»Warte fünf Minuten, nachdem ich weg bin. Dann rufst du die Polizei an. Schließ die Tür ab und warte hier drinnen, bis sie da sind. Lass niemand sonst in die Wohnung.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Du willst gehen?«
»Ich muss mit Bie reden. Sie muss es von mir erfahren … dass ich heute Nacht bei dir war. Verstehst du, Miriam, du musst der Polizei sagen, dass du allein warst, die Tür nicht aufgekriegt hast. Dass du einen blutigen Arm gesehen hast und dich nicht aus der Wohnung getraut hast, bis sie gekommen sind.«
Sie starrte ihn immer noch an und schien nicht zu begreifen, wovon er redete.
»Miriam!«
Er nahm ihre Haare und drehte ihren Kopf, damit er ihr in die Augen sehen konnte. Doch ihr Blick ging ins Leere.
»Denkst du daran? Denkst du daran, dass du anrufen musst?«
Er nahm sie fest in seine Arme und küsste sie auf die Wange. Ihre Arme hingen schlaff herunter.
»Geh nicht, Axel«, flüsterte sie.
Mit angehaltenem Atem
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