Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
sie.
Er hatte zwei Flaschen Wein gekauft. Es klirrte, als er die Tüte abstellte.
»Ich habe Angst, Axel.«
Er zog sie an sich und zweifelte, dass er imstande sein würde, das zu sagen, was er sich vorgenommen hatte.
»Ich würde mir so wünschen, dass du bei mir bleibst. Dass du nie mehr von hier fortgehen musst.«
»Wovor hast du Angst?«, flüsterte er.
»Anita ist verschwunden.«
»Anita?«
»Die Frau, die unter mir wohnt.«
»Deren Tochter bei einer Pflegefamilie ist?«
Miriam nickte.
»Als ich gestern nach Hause kam, stand ihre Tür sperrangelweit offen. Das Licht war an, der Fernseher lief. Ich wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich habe die Polizei angerufen. Sie sind schon hier gewesen.«
Sie nahm seine Hand und zog ihn ins Wohnzimmer.
»Sie wollte Victoria gestern Nachmittag abholen, ist aber nicht bei der Pflegefamilie aufgetaucht.«
»Könnte sie verreist sein?«
»Ohne etwas zu sagen? Und ausgerechnet an dem Tag, an dem Victoria endlich mal wieder bei ihr übernachten sollte? Victoria bedeutet einfach alles für Anita. Sie hatte sich schon unbändig darauf gefreut.«
Axel sprach nicht aus, was er dachte. Über eine frühere Drogenabhängige, die plötzlich verschwunden war.
»Ich weiß, dass irgendwas Schlimmes passiert ist. Nach allem, was bereits geschehen ist …«
Miriam saß auf dem Sofa und zog eine Decke um ihre Schultern.
»Denkst du etwa an die beiden Frauen, die tot aufgefunden wurden? An all das Zeug, das in der Zeitung steht?«
Sie biss sich auf die Lippen. »Irgendwie habe ich das Gefühl, als ob das was mit mir zu tun hätte.«
»Das bildet man sich leicht ein, wenn man Angst hat«, beruhigte er sie. »Ich glaube, niemand in der Stadt lässt das kalt.«
»Nein, das ist es nicht …«
Sie streckte die Hand nach ihm aus.
»Ich will, dass du dich neben mich legst«, flüsterte sie. »Ich will, dass du mich in den Arm nimmst, so fest du kannst.«
In ihrer winzigen Wohnung auf dem Sofa zu liegen … das Gefühl, nichts sagen zu müssen, während sie sich schweigend an ihn schmiegt. Ich mag den Mann, den sie aus mir macht, dachte er. Ihn, der mit ihr zusammen ist, mag ich lieber als alle anderen Ausgaben von Axel Glenne. Dennoch muss ich ihn aufgeben. Muss ich das wirklich?
Er schrieb eine SMS, dass er nicht nach Hause kommen würde. Ohne Erklärung. Er hatte nicht mehr genug Energie für eine weitere Lüge.
Es war halb acht. Die eine Rotweinflasche war fast leer. Bie hatte versucht anzurufen, doch er hatte den Rufton ausgeschaltet. Daraufhin hatte sie eine Nachricht geschrieben: »Was ist los, Axel?« Die Frage erleichterte ihn regelrecht. Jetzt konnte er sich einem klärenden Gespräch nicht länger entziehen. »Erkläre dir morgen alles«, antwortete er.
»Dein Vater war ein Kriegsheld«, sagte Miriam unvermittelt.
Axel verteilte den Rest des Weins auf beide Gläser. Es überraschte ihn nicht, dass sie es herausgefunden hatte.
»Ein waschechter norwegischer Kriegsheld«, bestätigte er. »Musste sich mutterseelenallein einen ganzen Winter lang in einer entlegenen Waldhütte verstecken.«
»Ich habe viel über den Krieg in Norwegen gehört«, sagte sie. »Viele haben mir erzählt, dass Deutschland von den tapferen Norwegern besiegt wurde. Ich habe mir sogar mal so eine Waldhütte angeschaut, von der du sprichst. Die Kommandozentrale lag im Keller. Der Großvater von dem Hüttenbesitzer war ein … wie heißt es noch gleich … Fluchthelfer?«
»Ja, es heißt Fluchthelfer.«
»Er half anderen Flüchtlingen über die Grenze nach Schweden. Schließlich wurde er gefangen genommen und kam in ein Konzentrationslager.«
Axel öffnete die zweite Flasche.
»Das war ein lebensgefährlicher Job«, bekräftigte er. »Als wir klein waren, hat mein Vater uns das gesamte Netz von Hütten und Fluchtrouten aufgezeichnet. Ich weiß nicht, wie oft er uns erzählt hat, dass er um ein Haar von der Gestapo erwischt worden wäre. Und jedes Mal lauschten wir mit angehaltenem Atem, selbst Brede … Weißt du den Namen des Mannes, der damals ein Fluchthelfer war?«
»Nein, den habe ich vergessen. Aber manchmal ist es auch gut, sich nicht an jede Einzelheit zu erinnern, meinst du nicht auch?«
Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie mit subtilen Mitteln versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Sie wollte, dass er nachfragte, was sie denn vergessen wolle. Sie wollte ihn so weit in ihre Vergangenheit hineinziehen, dass er am Ende nicht mehr in der Lage sein
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