Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
bin bei einer Freundin. Habe bei ihr übernachtet. Ich muss mich überwinden und bald nach Hause fahren.«
»Ich komme bei dir vorbei.«
»Nein, Axel, das traue ich mich nicht.«
Sie legte auf. Er wählte erneut ihre Nummer, doch sie antwortete nicht.
Rita kam um Viertel vor sechs. Er saß immer noch auf dem Sofa und starrte in den Abendhimmel, der eine bronzene Färbung angenommen hatte.
»Bist du immer noch hier, Axel?«, rief sie. »Das wird ja allmählich chronisch.«
Er lächelte matt.
»Keine Angst, Rita. Ich will nicht bei dir einziehen.«
Sie trug ein paar Einkaufstüten herein.
»So war das nicht gemeint. Hast du mit der Polizei geredet?«
Er antwortete nicht.
»Mein Gott, Axel! Die suchen doch schon überall nach dir. Ich musste ihnen offen ins Gesicht lügen, als sie vorhin in der Praxis waren.«
Er wusste, dass er auch sie in Schwierigkeiten brachte.
»Du hast überhaupt keinen Grund, dich versteckt zu halten. Was ist los mit dir?«
Sie setzte sich auf einen Stuhl.
»Ist es wegen dieser Studentin? Miriam?«
Er legte den Kopf in den Nacken.
»Ich erwarte nicht von dir, dass du das verstehst, Rita. Ich verstehe es selbst nicht. Ich lasse Bie und meine Familie im Stich und verbringe die Nacht bei einer Studentin, die siebzehn Jahre jünger ist als ich. Ich stoße auf eine ermordete Frau und laufe kopflos davon. In der Nacht irre ich durch den Wald und erschrecke einen Obdachlosen zu Tode.«
Rita beugte sich vor und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Das klingt nach einer schweren Midlife-Crisis. Vielleicht solltest du die Reste deines alten Lebens zusammensuchen, ehe es zu spät ist.«
Er musste lächeln. Für einen Augenblick spürte er festen Grund unter den Füßen. Fühlte, dass es möglich war, einen Entschluss zu fassen. Es ist der Zweifel, der dich zugrunde richtet, dachte er. Du bist nie ein Grübler gewesen. Du bist stets weitergekommen, indem du gehandelt hast.
»Du hast recht, Rita. Höchste Zeit, die Dinge in Ordnung zu bringen. Ich werde mich bei der Polizei melden. Doch vorher muss ich noch was erledigen.«
Er sah ihr an, dass sie unbedingt wissen wollte, was das war, gab ihr aber keine Chance, danach zu fragen.
50
N ina Jebsen steckte sich ein Nikotinkaugummi in den Mund und versuchte erneut, sich ins Melderegister einzuloggen. Als ihr das aus technischen Gründen nicht gelang, griff sie zum Telefon, um Viken anzurufen, kam aber im selben Moment darauf, dass er gerade eine Besprechung hatte. Sie erwog, die Suche zu verschieben, bevor sie auf eine bessere Idee kam. Viken hatte vorhin kurz bei ihr vorbeigeschaut, nachdem er aus Nesodden zurückgekehrt war. Selten hatte sie ihn so vergnügt gesehen. Zum zweiten Mal hatte er ihr ein großes Lob dafür ausgesprochen, dass sie herausgefunden hatte, dass Axel Glenne bei seiner Praktikantin in Rodeløkka übernachtet hatte. Nina hatte gegen solches Lob absolut nichts einzuwenden, vielmehr spornte es sie an, ihre Suche nach dem Zwillingsbruder fortzusetzen, auch wenn das Melderegister derzeit nicht zugänglich war. Selbst wenn Viken mürrisch und provokativ war, wurde sie stets von dem Willen getrieben, die Ermittlungen voranzubringen. Wahrlich nicht alle reagierten auf Vikens Launenhaftigkeit auf diese Weise. Sigge Helgarsson beispielsweise reagierte genau auf die entgegengesetzte Weise, wurde bockig und reduzierte seine Aktivität auf ein Minimum.
Sie rief im Rikshospital an. Erfuhr, dass Informationen zu bestimmten Geburten, auch wenn diese schon über vierzig Jahre zurücklagen, nur mit Genehmigung des Stationsleiters erteilt werden durften. Da dieser aber bereits Feierabend gemacht hatte, wurde sie auf morgen vertröstet.
Nina betrachtete nachdenklich den Dokumentenstapel auf ihrem Schreibtisch. Viken hatte gesagt, dass Brede offenbar in irgendeiner Osloer Klinik zur Welt gekommen war. Sie überlegte kurz, ob sie ihr Glück noch bei anderen Krankenhäusern versuchen sollte, ging allerdings davon aus, dass überall dieselben Bestimmungen galten. Deshalb entschied sie sich, bis zum nächsten Tag zu warten.
»Falls es diesen Brede überhaupt gibt«, wie Viken mit spitzbübischem Grinsen angemerkt hatte.
Dass eine Person wie Axel Glenne – ein renommierter Arzt und Vater von drei Kindern – sich einen fiktiven Zwillingsbruder erschaffen und seiner eigenen Familie dessen Existenz vorgegaukelt haben sollte, schien ihr nahezu unvorstellbar. Und noch unvorstellbarer schien es ihr, dass dieser Umstand etwas mit den Morden an
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