Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
nahm zwei Pillen heraus.
»Die Magensäure«, erklärte er. »Bananen helfen genauso gut, aber ich kann ja nicht den ganzen Tag wie ein hungriger Affe durch die Gegend laufen.«
Im Handschuhfach entdeckte er eine Flasche stilles Mineralwasser. »War offenbar kein großes Vergnügen, in der Familie Glenne aufzuwachsen. Den Vater kennst du. War während der deutschen Besatzung einer der Anführer im Widerstand und später ein knallharter Bursche beim Obersten Gerichtshof. Auch dort war er nur als Oberst Glenne bekannt, obwohl der Krieg längst vorbei war. Seine Frau wird von Vibeke Glenne als hoffnungslos egozentrisch beschrieben. Aber das Urteil einer Schwiegertochter ist vielleicht nicht gerade das objektivste. Die Frau des Obersts wollte vermutlich gar keine Kinder haben, und als sie zwei auf einmal bekam, war das mindestens eines zu viel. Ausbaden musste das vor allem einer der Zwillinge, der nach alttestamentarischen Prinzipien erzogen und gezüchtigt wurde. Im Laufe der Jahre hat er sich dann zu einem weithin bekannten Ungeheuer entwickelt. Sein Bruder Axel – sozusagen der gute der beiden Zwillinge – hat stets versucht, ihn zu verteidigen, doch als er fünfzehn Jahre alt war, ist alles endgültig aus dem Ruder gelaufen.«
Er steckte sich zwei Pillen in den Mund und spülte sie mit einem Schluck des stillen Mineralwassers herunter.
»Da schmeckt ja Spülwasser noch besser!«, stöhnte er und verzog das Gesicht.
»Was genau ist in diesem Sommer passiert?«
Viken kaute auf einer Salmiakpastille herum und stellte zufrieden fest, dass Norbakk sich für die Geschichte mit den Zwillingen zu interessieren schien.
»Vibeke Glenne hat erzählt, dass der alte Oberst Glenne einst einen Hund besaß. Offenbar wurde dem Köter mehr Liebe und Zuneigung zuteil als dem Rest der Familie. Würde mich wirklich nicht wundern, wenn das stimmt. Ich bin dem alten Glenne ein paarmal begegnet. Die Gerüchte, die ich über ihn gehört hatte, waren keinesfalls übertrieben. Mit dem war nicht gut Kirschen essen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Er ließ seinen Blick über die Felder bis zum Waldrand und dem hellen Abendhimmel schweifen.
»Schön hier«, meinte er.
»Was war mit dem Hund?«
Viken drehte sich zu Norbakk um.
»Das Ende der Geschichte ist folgendermaßen: Brede hatte sicher allen Grund, die Töle zu hassen. Jedenfalls hat er sie mit einer der Pistolen seines Vaters erschossen. Axel bat flehentlich für ihn um Vergebung, aber die Eltern kannten keine Gnade. Brede wurde von zu Hause weggeschickt und in ein Heim gesteckt – Besserungsanstalt hieß das wohl damals – und tauchte nie wieder auf.«
Als sie über eine Hügelkuppe fuhren, erblickten sie mehrere Blumenkränze und brennende Kerzen am Wegesrand.
»Wieder ein Unfall«, bemerkte Norbakk. »Das ist hier eine berüchtigte Stelle.«
Viken hörte nicht, was er sagte, sondern fuhr unbeirrt fort:
»Ich frage mich langsam, ob diesen Zwillingsbruder vielleicht deshalb niemand je zu Gesicht bekommen hat, weil er gar nicht existiert.«
»Das müsste sich relativ leicht überprüfen lassen«, entgegnete Norbakk leichthin.
»Wahrscheinlich hast du recht. Ein Blick ins Melderegister müsste ausreichen, selbst wenn er inzwischen den Namen geändert hat.«
»Warum fragen wir nicht einfach die Mutter? Die ist doch noch am Leben, oder?«
»Die ist angeblich senil und dämmert in einem Luxuspflegeheim vor sich hin.«
Norbakk schien in Gedanken zu sein.
»Diese drei Mordfälle sind anders als alles, was ich bisher erlebt habe«, sagte Viken. »Vielleicht bekommen wir noch einen Profiler zur Seite gestellt, aber es schadet ja nicht, dass wir uns selber Gedanken über das Täterprofil machen, ehe wir uns in den Fängen eines sogenannten Experten befinden. Du erinnerst dich doch an die Charakterisierung, die ich nach den ersten beiden Morden vorgenommen habe: ein Täter mit guter Ausbildung und einem ordentlichen Job, ein Familienvater mit gespaltener Persönlichkeit, jemand, der mit einer gefühlskalten Mutter aufwuchs, die ihn tyrannisiert hat. Wenn du es mit einem Serienmörder zu tun hast, musst du dir eingehend sein Verhältnis zur Mutter anschauen. Da liegt meistens der Hund begraben …«
»Willst du mir etwa erzählen, dass dieser Dr. Glenne sich in seiner Phantasie einen Zwillingsbruder erschaffen hat, der krankhafte Verbrechen für ihn begeht?«
»Ich will das nicht behaupten, aber es wird ja wohl erlaubt sein, laut zu denken. Manchmal ist das sogar
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