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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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auf, mir diese Frage zu stellen. Im Grunde war es mir egal, sie war und blieb meine Mutter, und ich wusste, dass ich sie eines Tages wiederfinden würde, auch wenn ich länger warten müsste als vorgesehen. Natürlich fiel es mir schwer, die grenzenlose Einsamkeit zu akzeptieren, die ich vorerst ertragen musste. Aber ich spürte genug Kraft in mir, um bis zu unserem Wiedersehen auszuharren.
    Ich nahm meine gewohnte Routine wieder auf, die Kurse, die Spaziergänge, die Mahlzeiten, das Luftanhalten. Von Zeit zu Zeit fragte Monsieur Kauffmann: Geht’s einigermaßen? Hältst du durch? Und ich antwortete: Es geht. In gewisser Hinsicht traf es sogar zu, denn nun wusste ich wenigstens, woran ich war. Vergiss nicht, was ich dir versprochen habe , sagte er. Häng dich rein.
    Mein lieber Monsieur Kauffmann. Nachdem ich erkannt hatte, welche Risiken er meinetwegen auf sich nahm, liebte ich ihn noch mehr, falls überhaupt möglich. Von da an waren wir beinah Komplizen, und es tat mir gut, ein so kostbares Geheimnis mit ihm zu teilen.
    Im dritten Protokolljahr geschah etwas völlig Unerhörtes. Eines Morgens tauchte Monsieur Kauffmann mit einem riesigen Rollcontainer bei mir auf, den er vor sich herschob.
    »Was ist das, Monsieur Kauffmann?«
    Mit verschwörerischer Miene setzte er sich auf das Bett und hob feierlich den Containerdeckel an.
    »Sieh selbst!«
    Ich trat ein Stück näher.
    »Das hier nennt man Bücher. Pass auf, bald kommst du aus dem Staunen nicht mehr heraus.«
    Zweifelnd hob ich eine Augenbraue. Das Zeug war ziemlich unansehnlich, seinen Worten zum Trotz. Er schien aber freudig erregt, nahm einen der Bände und hielt ihn mir vor die Augen.
    »Schau gut hin, Lila.«
    Plötzlich klappte das Ding in seinen Händen auf und offenbarte eine Fülle von dünnen, beweglichen Blättern. Wie eine Blume, die schlagartig aufblüht, ein Vogel, der seine Flügel ausbreitet.
    »Da bleibt dir die Spucke weg, was?«
    Ich antwortete nicht. Ich beobachtete, wie seine dicken Finger die von schwarzen Zeichen und bunten Tupfen übersäten Seiten umblätterten.
    »Na, hat es dir etwa die Sprache verschlagen?«
    »Was sagten Sie eben? Wie heißt das?«
    »Buch. Das, was wir vor den Grammabooks hatten.«
    »Und was steht drin?«
    »Kommt ganz auf das Buch an.«
    Ich habe ihn mit großen Augen angesehen.
    »Warte, ich erklär’s dir. Beim Grammabook hat man bloß einen leeren Bildschirm, auf dem der gewünschte Text nach Belieben erscheint und verschwindet. Ein Buch hingegen besteht aus bedruckten Seiten. Ist der Text einmal da, kann man ihn nicht mehr verändern. Die Wörter bleiben an der Oberfläche haften. Hier, fühl mal.«
    Ich habe die Hand auf die Seite gelegt. Erst habe ich sie betastet, dann mit dem Zeigefinger leicht an den Buchstaben gekratzt. Monsieur Kauffmann hatte nicht gelogen: Sie saßen auf dem Blatt fest.
    »Das kann man nicht löschen?«
    »Nein. Die Buchstaben sind unverrückbar. Unzerstörbar. Gerade dadurch zeichnet sich ein Buch aus, so gehört dir der Text. Er gehört dir voll und ganz. Er bleibt dir erhalten, ohne dass ihn jemand ohne dein Wissen manipulieren kann. In diesen Zeiten ist das ein besonderer Vorzug, glaub mir«, fügte er leise hinzu. » Ex libris veritas , Mädchen. Aus den Büchern kommt die Wahrheit. Merk dir das: Ex libris veritas .«
    Mir war nicht ganz klar, worauf er hinauswollte, und auch nicht, warum er einen dermaßen feierlichen Ton anschlug. Trotzdem habe ich genickt, für alle Fälle. Ex libris veritas . Von mir aus, wenn er darauf bestand.
    »Sieh mal«, fuhr er fort. »Hat man die Vorderseite zu Ende gelesen, blättert man sie um und liest auf der Rückseite weiter. Und wenn eine Seite voll ist, wird der Text auf der nächsten fortgesetzt.«
    »Sind es deswegen so viele Seiten?«
    »Du hast es erfasst.«
    Er wies auf die Bücher, die sich im Container stapelten.
    »Ich habe für dich eine kleine Auswahl getroffen, die dich bestimmt interessiert.«
    »Sie wollen mir das alles überlassen?«
    »Ja, meine Kleine. Zumindest eine Zeitlang. Schließlich brauchst du Beschäftigung.«
    »Wäre es nicht einfacher, die ganzen Texte auf mein Grammabook zu laden? Das würde deutlich weniger Platz einnehmen!«
    »Tja, wie du bald selbst feststellen wirst, Mädchen, sind Bücher weitaus bequemer als Grammabooks. Man kann stundenlang darin lesen, ohne dass einem die Augen weh tun. Das ist ebenfalls ein besonderer Vorzug.«
    Ich habe wahllos ein Buch vom Stapel genommen und ein bisschen darin

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