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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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darüber informiert, dass man deiner Mutter soeben die Elternrechte entzogen hatte. Mehr wissen wir nicht.«
    » Die Elternrechte entzogen ? Was heißt das?«
    Monsieur Kauffmann schloss kurz die Augen.
    »Das heißt, dass zwischen euch keine rechtliche Bindung mehr besteht. Offiziell gilt sie nicht mehr als deine Mutter.«
    »Aber wie kann so etwas geschehen? Das ist … das ist doch nicht möglich!«
    »Das ist eine ganz rechtmäßige Prozedur.«
    »Warum?«
    »Ich weiß es nicht, Lila. Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
    »Aber wie soll ich sie dann wiederfinden?«
    Erneut schüttelte er den Kopf, um sein Bedauern und seine Ohnmacht zu signalisieren. Ich wiederholte unablässig: Das ist doch nicht möglich , das ist doch nicht möglich . Ich konnte es tatsächlich nicht glauben. So viel Unglück, so viel Hoffnungslosigkeit waren nicht zu fassen. Wenn ein gewisses Maß überschritten ist, verweigert man sich – das ist doch nur menschlich, finden Sie nicht? Und während ich gebetsmühlenartig Das ist doch nicht möglich wiederholte, spürte ich, wie die Leere sich in mich hineinfraß, sie dehnte sich immer weiter aus, zehrte mir nach und nach die Brust auf, verschlang meine Substanz. Bald wäre alles vertilgt, davon war ich überzeugt, und es war mir egal. Ich hatte keine Lust mehr weiterzumachen. Als ich aufstehen wollte, sagte er:
    »Moment mal, Mädchen! Wir sind noch nicht fertig.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Für mich ist das Thema erledigt.«
    »Nur nicht unterkriegen lassen.«
    »Warum haben Sie mir nie ein Wort gesagt, wegen meiner Mutter?«
    Er antwortete nicht. Er wirkte bedrückt. Plötzlich fing er an, seine Westentasche zu betasten, zog einen kleinen Flachmann heraus, schraubte schnell den Verschluss auf und führte das Fläschchen an die Lippen. Er trank es in einem Zug leer und schraubte es wieder zu, bevor er es in die Tasche zurücksteckte. Danach starrte er eine Weile schweigend vor sich hin. Schließlich wandte er sich mir traurig lächelnd zu.
    »Ich dachte, du hättest sie vollkommen vergessen. Das dachten alle. Die Kinder vergessen meistens – jedenfalls der Großteil derer, die hier aufgenommen werden. Aber du bist nicht so wie die anderen. Das hätte ich berücksichtigen müssen: Du bist anders.«
    »Dann werde ich wohl nicht weitermachen, Monsieur Kauffmann. Wenn ich meine Mutter nicht wiedersehen kann, hat das alles keinen Sinn.«
    »So darfst du nicht reden, Lila.«
    »Aber das ist nun mal die Wahrheit. Die Wahrheit liegt Ihnen doch am Herzen? In meinem Fall lautet sie: Ich werde es nicht schaffen.«
    Wieder schloss er für einen Moment die Augen.
    »Vielleicht gibt es eine Lösung.«
    »Eben haben Sie mir gesagt, dass es aussichtslos ist!«
    »Theoretisch ja, aber in der Praxis …«
    Er tätschelte das Fläschchen durch den Westenstoff hindurch.
    »Wenn man nur lange genug sucht, findet man immer einen Weg, Verbote zu umgehen.«
    »Soll das … soll das vielleicht heißen, dass trotz allem eine Chance besteht, meine Mutter wiederzufinden?«
    Er nickte.
    »Weißt du, ich kenne eine Menge Leute. Leute, die uns helfen könnten. Allerdings nicht jetzt … Solange du im Heim wohnst, können wir nichts unternehmen, es wird zu streng überwacht. Aber das ist nicht für immer, Lila. Eines Tages kommst du raus. Du wirst das Heim verlassen und dein eigenes Leben leben. Und wenn du dann immer noch dringend wissen möchtest, was aus deiner Mutter geworden ist, wenn es dir immer noch so wichtig ist, werde ich dir helfen. Versprochen. Ich werde dir helfen, das herauszufinden.«
    Ich wusste nicht recht, ob ich ihm glauben sollte. Vielleicht sagte er das nur, um mir wieder Hoffnung zu schenken und zu verhindern, dass ich mich von der Dachterrasse stürzte.
    »Vertraust du mir etwa nicht? Du weißt doch, dass ich dich niemals belügen würde.«
    Um ein bisschen klarer zu sehen, habe ich ihm in die Augen geblickt, aber das half mir nicht weiter. Nun wusste ich gar nicht mehr, woran ich war. Schließlich habe ich gesagt: Doch, ich vertraue Ihnen . Weil es durchaus der Wahrheit entsprach. Und weil man sich immer für das kleinere Übel entscheidet.
    Zunächst habe ich mir wegen meiner Mutter das Gehirn zermartert. Die Elternrechte entzogen. Ich fragte mich, was sie wohl verbrochen hatte, um so tief zu sinken, und stellte mir bewaffnete Überfälle, Mordtaten, Anschläge vor. Aber das ließ sich mit ihrer Schönheit, ihrer sanften Stimme einfach nicht in Einklang bringen. Irgendwann hörte ich

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