Die Ballade der Lila K
behaupten, darauf fiel ich nicht herein.
»Wir können uns jeden zweiten Tag sehen, Lila. Das wird wunderbar. Glaub mir, es wird genauso sein wie früher.«
»Sie wollen mich ja wirklich für blöd verkaufen!«
Ich war ihm furchtbar böse, weil er so ruhig blieb, als machte ihm das, was uns beiden widerfuhr, nicht das Geringste aus. Er beugte sich zu mir.
»Sieh mich an, Lila. Sieh mir in die Augen.«
Ich gehorchte ihm. Ich stand ihm gegenüber und starrte in seine grauen Augen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Kummer darin steckte. Auch wenn er das Maul aufriss und seine großen Reden schwang, war er traurig. Genauso traurig wie ich. Bloß dass sich die Traurigkeit bei ihm in den Augen sammelte.
»Hast du mich jetzt verstanden?«
Ich nickte. Und da hat er gelächelt.
So fing unser Teilzeitleben an – indem wir beide versuchten, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Monsieur Kauffmann war der Ansicht, dass traurige Gefühle nicht überhandnehmen dürfen: Genießen wir die Zeit, die uns zusammen vergönnt ist, Mädchen, ohne uns sinnlos zu sorgen. Daran haben wir uns auch gehalten: Wir haben jede Minute ausgekostet. Er brachte mir Bücher, spielte Cello für mich. Manchmal stiegen wir auf das Dach und trugen Verse in alle Himmelsrichtungen vor. Es war tatsächlich nicht mehr ganz so wie früher, aber wir haben trotzdem einen herrlichen Frühling daraus gemacht.
Mit Fernand tat ich mich am Anfang schwer. Obwohl ich um seine Unschuld wusste, verübelte ich ihm, dass er Monsieur Kauffmanns Platz einnahm. Ich habe ihm die kalte Schulter gezeigt – schließlich musste ich mein Missfallen zum Ausdruck bringen. Wenn er mich besuchte, ließ ich ihn die ganze Zeit allein reden. Ich öffnete den Mund nur, um so laut wie möglich zu gähnen. Oder ich vertiefte mich in ein Buch und versteckte mein Gesicht dahinter. Er tat so, als ob nichts wäre, redete über Gott und die Welt, dann wieder über die Welt und Gott. So hielt er das einseitige Gespräch in Gang. Ab und zu gab er vor, sich für meine Bücher zu interessieren, und streifte vor dem Blättern ein Paar Schutzhandschuhe über. Wegen dieser Handschuhe warf ich ihm verächtliche Blicke zu. Ich fand diese Vorsichtsmaßnahmen vollkommen lächerlich und gab ihm das deutlich zu verstehen. Ich war, mit einem Wort, unausstehlich.
Er hat sich sehr geduldig verhalten, um nicht zu sagen stoisch. Nie hat er eine tadelnde Bemerkung oder ein böses Wort fallenlassen. Er konnte sogar den Anschein erwecken, als freute er sich, mich zu sehen, und das will wirklich etwas heißen. Irgendwann tat er mir leid. Und was hätte es mir schon gebracht, ihn noch länger zu schikanieren? Zunächst habe ich ihm ein paar Wortbrocken hingeworfen. Satzfetzen. Ich musste es langsam angehen, bis ich mich an die Vorstellung gewöhnt hatte, nett zu sein. Nach und nach bin ich aufgetaut. Wir fingen an, richtige Gespräche zu führen. Das war zugegebenermaßen gar nicht übel. Fernand war auf eine sehr erholsame Weise mild, beständig und fade. Er war freundlich, zurückhaltend, ein bisschen farblos – aber wer hätte gegen Monsieur Kauffmann nicht farblos gewirkt? Das störte mich nicht, ganz im Gegenteil. Es gefiel mir, dass Fernand seinen Platz kannte und sich im Hintergrund hielt. Das war gut. Das Beste aber – das, was mir letztendlich half, ihn zu akzeptieren – war die grenzenlose Bewunderung, die er Monsieur Kauffmann entgegenbrachte.
Der Sommer verging wie im Flug. Ich ahnte noch immer nichts. Ich lebte in meiner friedlichen kleinen Blase, die mich so wirksam vor der Außenwelt schützte. Monsieur Kauffmann war lustiger, fröhlicher, unbeschwerter denn je. Er war wirklich ein begnadeter Schauspieler.
Ende August konnte ich die Augen jedoch nicht länger verschließen. Es war nicht zu übersehen, dass einiges schieflief. Monsieur Kauffmann hatte sich sehr verändert, er hatte stark zugenommen. Er konnte seine prächtigen bestickten Westen nicht mehr zuknöpfen. Vor allem aber trank er, immer mehr, und machte keinerlei Anstalten, das zu verbergen. Er führte stets fünf oder sechs Flachmänner mit Cognac oder Single Malt Whisky in den Innentaschen seines Redingote mit. Die trank er, wenn wir zusammensaßen, in einem Zug aus, als ginge es um sein Leben. Danach schwieg er und lächelte melancholisch. Mir jagte das Angst ein, dieser ganze Fusel, den er sich hinter die Binde goss.
»Monsieur Kauffmann, warum saufen Sie so viel? Es ist doch verboten, und Sie wissen genau,
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