Die Ballade der Lila K
Zeugenstand versammelte sich der letzte Abschaum: Heimmitarbeiter, die Monsieur Kauffmann entlassen hatte, neidische Kollegen aus dem Gelehrtenstand, arglistige Weggefährten, frustrierte Randgestalten. Selbst seine Putzfrau hatte man zu einer Fernsehtalkshow eingeladen, eine arme, zutiefst verängstigte Zonenbewohnerin, die von den Moderatoren mehr als eine Viertelstunde lang gepiesackt wurde, bis sie endlich schreckensstarr hauchte: Ja, das stimmt, er trank. Ich konnte ihm noch so oft sagen: »Das dürfen Sie nicht, Monsieur«, er trank trotzdem.
Dann verschwand der Kauffmann-Skandal schlagartig aus dem Rampenlicht. Das Potential an übler Nachrede war restlos erschöpft, das Publikumsinteresse auch. Kein Mensch sprach mehr darüber, nur in den Nachrichten tauchten ab und zu noch ein paar Fetzen auf, zwei, drei Sätze, aus denen hervorging, dass das Ermittlungsverfahren weiterlief.
»Das bedeutet, dass sie ihm nichts nachweisen konnten«, erklärte mir Fernand. »Sonst hätten sie längst Anklage gegen ihn erhoben.«
»Dann werden sie ihn also freilassen!«
»Kann sein. Aber damit ist das Verfahren noch lange nicht beendet. Es wird sich über Jahre hinziehen, und währenddessen steht er die ganze Zeit unter Verdacht. Er ist erledigt, Lila. Vollkommen erledigt.«
Anfang Dezember wurde Monsieur Kauffmann gegen Kaution freigelassen und in seiner Wohnung auf der Île de la Cité unter Hausarrest gestellt, mit der Auflage, weder Besucher zu empfangen, noch mit der Außenwelt zu kommunizieren. Trotz Fernands pessimistischer Einschätzung gab ich die Hoffnung nicht auf.
Eines Morgens drang ohne Vorwarnung ein Mann in mein Zimmer ein, ein Mitarbeiter des Heims. Er schob einen Rollcontainer vor sich her. Beim Anblick seiner Schutzhandschuhe wusste ich sofort, welche Drecksarbeit er zu verrichten hatte. Ich habe mich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
»Was wollen Sie hier?«
Er zögerte kurz, bevor er sichtlich verlegen murmelte:
»Ich bin hier, um die Bücher des ehemaligen Leiters abzuholen. Auf Anordnung der Kommission.«
Danach trat er auf die Bücherregale zu und fing an, die einzelnen Bände einzusammeln.
Manchmal muss man seinen Ekel eben überwinden. Den Nahkampf aufnehmen, wenn es der guten Sache dient. Einen anderen schubsen, hauen und beißen. Genau das habe ich getan: Ich habe mich auf ihn gestürzt und meine Bücher mit Zähnen und Klauen verteidigt. Als er sich umdrehte, um mir Einhalt zu gebieten, habe ich die Krallen ausgefahren und ihm das Gesicht zerkratzt. Armes Kerlchen, ich habe ihn schlimm zugerichtet. Keine bleibenden Schäden, aber immerhin mehrere Blutergüsse, eine geplatzte Oberlippe und überall Striemen. In meiner Akte lag auch eine Kopie seiner Aussage, der zufolge ihn meine Körperkraft überrascht habe, darauf sei er nicht gefasst gewesen angesichts eines so kleinen und zarten Mädchens. Das hat ihn jedoch nicht daran gehindert, rasch die Oberhand zu gewinnen. Er packte mich an den Handgelenken und warf mich zu Boden. Weil ich dann immer noch schreiend um mich schlug, rief er schließlich den Sicherheitsdienst.
Die Muskelprotze sind gleich angerückt. Erst zu dritt haben sie mich überwältigt. Als ich ihre Hände auf meinen nackten Armen spürte, ihre Fäuste, die sich wie Schraubstöcke um meine Fußgelenke schlossen, hätte ich mich am liebsten übergeben. Aber ich hatte nichts im Magen. Ich konnte nur aufstoßen, und das brachte sie zum Lachen.
Während die Sicherheitsleute mich festhielten, machte sich der Erfüllungsgehilfe wieder an die Arbeit. Er schien es so eilig zu haben, dass er sich nicht einmal das Blut von den Wangen wischte. Dieweil er die Bücher in den Container stapelte, beschimpfte ich ihn lauthals als Arschloch, Dreckskerl, Flachwichser und noch manches mehr. Wirklich tröstlich war das allerdings nicht. Er machte einfach weiter. Ich merkte zwar, dass er sich ein wenig schämte, aber was nützte das? Als er alles eingesammelt hatte, legte er den Deckel auf und schob den Container zur Tür. Da gab ihm einer der Sicherheitsschergen diesen Hinweis:
»Da drüben liegt noch eins.«
Er deutete auf das Lexikon auf meinem Nachttisch. Ich schlug wieder um mich und brüllte:
»Dieses Buch gehört mir! Sie dürfen es mir nicht wegnehmen!«
Die Sicherheitsleute lachten laut auf.
»Das hat ja richtig Mumm in den Knochen, das kleine Fräulein!«
»Man hat es mir geschenkt! Dazu haben Sie kein Recht!«
Der Erfüllungsgehilfe sah mich schweigend an, die Klinke in der
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