Die Ballade der Lila K
Hand.
»Mach schon!«, bellten die Sicherheitsleute. »Schnapp dir das Ding und verschwinde, damit wir diese Furie endlich vom Hals haben.«
Der andere rührte sich nicht von der Stelle. Er starrte mich unverwandt an, die Wangen blutüberströmt, die Oberlippe dick angeschwollen.
»Worauf wartest du?«, schrien die Typen.
Er antwortete nicht. Flehentlich sagte ich:
»Monsieur, ich bitte Sie, nehmen Sie mir das Lexikon nicht weg. Es gehört mir. Es ist ein Geburtstagsgeschenk von Monsieur Kauffmann.«
In meiner Kopflosigkeit machte ich mir gar nicht bewusst, wie absurd es war, einen Mann um Nachsicht zu bitten, den ich gerade grün und blau geschlagen hatte. Er war wie versteinert. Ich wiederholte:
»Ich bitte Sie!«
»Klappe!«, befahl einer der Kraftmeier und hielt mir den Mund so brutal zu, dass seine Ringe mir die Lippen aufrissen.
Der andere zuckte unmerklich zusammen. Ein paar Sekunden lang sah er mich noch an. Dann wandte er sich ab und öffnete die Tür.
»Und was ist mit dem Buch?«, protestierten die Schergen.
»Es gehört ihr, hat sie eben gesagt.«
»Na und?«
»Mein Befehl lautet, die Bücher vom ehemaligen Leiter an mich zu nehmen.«
»Und?«
»Dieses Buch nehme ich nicht mit, weil es ihr gehört, wie sie sagt.«
»Das glaubst du ihr?«
Er drehte sich zu mir. Wimmernd lag ich da, der Muskelprotz hielt mir immer noch den Mund zu, der heftig blutete. Er antwortete mit einem traurigen Lächeln:
»Ja, ich glaube ihr.«
Ich blinzelte, um ihm meine Dankbarkeit zu signalisieren. Er nickte. Dann ging er schweren Schrittes los, über den Container gebeugt, und brachte Monsieur Kauffmanns Schätze weg.
Zwei Tage später kam Fernand mich besuchen. Wortlos setzte er sich auf das Bett. Er wirkte irgendwie verstört.
»Wie geht’s deinen Lippen?«
»Sehen Sie selbst …« Ich zeigte auf meinen verschorften Mund. »Aber deswegen sind Sie wohl nicht hier.«
»Du hast recht, Lila. Ich habe zwei Neuigkeiten für dich, eine gute und eine schlechte.«
Ich habe mir die Sonnenbrille auf die Nase geschoben und mich ans andere Ende des Bettes gesetzt.
»Die gute zuerst: Die Kommission erteilt dir die Erlaubnis, das Lexikon zu behalten. Zuerst wollten die Mitglieder nichts davon hören, aber dann habe ich ihnen angedroht, eine Untersuchung zu beantragen, um zu klären, wie die Sicherheitsleute mit dir umgesprungen sind. Das hat ihnen das Maul gestopft. Das Lexikon bleibt bei dir.«
Er drehte sich zu mir, um zu sehen, wie ich reagierte. Ich weiß nicht so recht, was er erwartet hatte. Vielleicht, dass ich mich freue, dass ich mich bedanke. Aber ich habe nichts gesagt. Mir war nicht danach. Ich wusste, dass es eine weitere Neuigkeit gab, eine schlechte, ich konnte das Unheil förmlich riechen. Ich musterte Fernand eine Weile, dann wandte ich den Kopf ab und hielt die Luft an. Ich fing an zu zählen.
Ich war bei 427 angelangt, als Fernand mir mit tonloser Stimme endlich mitteilte, dass Monsieur Kauffmann am Vorabend gestorben war. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten.
Seine Putzfrau hatte ihn gefunden. Er saß mit weit aufgerissenen Augen in einem Sessel. Neben ihm befanden sich auf einem Beistelltischchen eine Kiste geschmuggelter Zigarren, ein überquellender Aschenbecher, ein kostbares, noch halbvolles Kristallglas und eine leere Flasche 54 er Chasse-Spleen. 54 – angeblich ein hervorragender Jahrgang. Der letzte vor der Zerstörung des Weinbaugebiets.
Lucienne
Nach diesen Neuigkeiten hütete ich niedergeschmettert das Bett. Sie ließen mich in Ruhe, wechselten nur regelmäßig meine Infusion und stellten mich ab und zu unter die Dusche. Wenn sie mich auszogen, sträubte ich mich nicht. Die Medikamente machten mich gefügig. Mir war ohnehin alles egal.
Fernand besuchte mich jeden Tag. Er saß an meinem Bett und redete behutsam auf mich ein. Ich hörte ihm nicht zu. Ich wollte mich allein auf das konzentrieren, was in mir vorging, auf die geballte Traurigkeit, die in meinen Adern pochte.
Eines Nachts ist Monsieur Kauffmann wiedergekommen – wobei ich nicht sicher bin, ob er es wirklich war. Ich weiß nicht, was danach aus einem wird, ich meine, nach dem Tod. Das ist eine metaphysische Frage, die ich für mich noch nicht abschließend geklärt habe. Ich glaube, dass man im Vorfeld gar nichts ausschließen kann. Möglicherweise war er es. Das würde mir gefallen. Aber es macht auch nichts, wenn es nur die Frucht meiner Einbildung war. Was zählt, ist, dass er mit mir gesprochen hat:
»Heiliger
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