Die Ballade der Lila K
Strohsack, Mädchen, guck dich doch mal an! Ist dir klar, wie sehr du mich enttäuschst? Wo bleibt dein Kampfgeist? Was für ein jämmerliches Bild!«
»Wissen Sie denn nicht, wie sehr ich leide?«
»Das ist noch lange kein Grund.«
»Ohne Sie ist alles hoffnungslos.«
»Hast du etwa deine Mutter vergessen?«
»Ich denke die ganze Zeit an sie, aber was bringt mir das? Jetzt habe ich nicht die geringste Aussicht mehr, sie wiederzufinden.«
An meinem Ohr begann die Luft zu vibrieren.
»Das betrübt mich sehr, dass du mein Versprechen bereits vergessen hast!«
»Ich habe es nicht vergessen, aber … wie soll das gehen, wenn Sie tot sind?«
»Ach, Mädchen, da kennst du mich aber schlecht! Als ich dir sagte, dass du auf mich zählen kannst, egal, was passiert , hatte ich tatsächlich alle Eventualitäten in Erwägung gezogen.«
Jäh richtete ich mich auf und wandte mich seiner unsichtbaren Gestalt zu.
»Soll das heißen, dass Sie Ihr Wort halten werden, was meine Mutter betrifft? Dass Sie mir trotz … trotz allem helfen werden? Monsieur Kauffmann, bitte antworten Sie mir! Habe ich Sie richtig verstanden? Kann ich immer noch auf Sie zählen?«
Ich spürte einen warmen Hauch auf meiner Wange, wie einen unmerklichen, aber beruhigenden Kuss. Da habe ich gelächelt und die Hände gefaltet. Nicht zum Gebet, bloß zum Dank.
Am nächsten Morgen habe ich mich im Bett aufgesetzt und den Katheter entfernt, den man mir in die Armbeuge gerammt hatte. Dann habe ich die Decken zurückgeschlagen und bin aufgestanden – jedenfalls habe ich es versucht. Kaum war ich auf den Beinen, fiel ich auch schon hin. Kein sonderlich geglückter Neustart, aber es heißt ja nicht umsonst: Der erste Schritt ist immer der schwerste. Nun hatte ich ihn vollbracht. Seit Monsieur Kauffmanns Tod waren sechs Wochen vergangen.
Ich nahm mein Alltagsleben wieder auf, mit den gewohnten Abläufen: die Kurse, die Spaziergänge, die Reha-Übungen. Ich litt noch mehr als früher, als ich um einen einzigen Menschen trauerte. Jetzt waren es zwei, und ich fragte mich, ob ich die Kraft haben würde, diese doppelte Trauer zu ertragen. Allmählich wurde mir die Last wirklich zu schwer, die Last unzähliger Tränen, die ich lautlos im Inneren vergoss.
Als es an der Zeit war, einen neuen Tutor für mich zu bestimmen, fiel die Wahl der Kommission auf Fernand. Dabei wussten alle, dass er Monsieur Kauffmanns Schützling gewesen war. Er hatte sich jedoch stets an die Regeln gehalten, und er kannte sich in meinem Fall bestens aus. Also machte die Kommission es sich leicht: Sie ernannte ihn zum Tutor und verlangte im Gegenzug, dass er dem exzentrischen Gebaren des ehemaligen Leiters eine klare Absage erteilte und die pädagogischen Leitlinien von nun an streng befolgte. Fernand erklärte sich dazu bereit, und die Sache war perfekt.
Fernand blieb sich treu: vorsichtig, gemäßigt und voller Zurückhaltung. Mitreißend war das nicht, aber Fernand ist eben nicht der Typ, der andere mitreißt. Jeden Tag holte er mich zum Hofgang ab, wie früher Monsieur Kauffmann. Inzwischen nahm ich es hin. Mit der Zeit hatte ich mich an die kreischenden Kinder gewöhnt – verrückt, wie stark die Macht der Gewohnheit ist.
Die alten Kameras hatte man durch nagelneue Modelle ersetzt, etwa ein Dutzend, die unseren Weg säumten, und das verstärkte meine Sehnsucht nach jener Zeit, als ich mit Monsieur Kauffmann spazieren ging und wir gewissermaßen allein auf der Welt waren. Zum Glück war wenigstens die Bank noch die alte geblieben. Dort setzten Fernand und ich uns ab und zu hin und tauschten Gemeinplätze aus. Manchmal schwiegen wir auch und dachten an Monsieur Kauffmann, ohne es uns gegenseitig einzugestehen. Was uns miteinander verband, war vor allem das: unser Schweigen und die gemeinsame Trauer.
Ansonsten störte mich Fernand kaum, er überprüfte lediglich, ob ich meine tägliche Medikamentendosis einnahm – das Gängige, Antihistaminika und ein leichtes Psychotropikum –, meine Reha-Übungen wie vorgeschrieben absolvierte und den Lernstundenplan einhielt. Das war kein Zeichen von Desinteresse, sondern von Rücksichtnahme, er wollte mich nicht überrumpeln und sich von jetzt auf gleich in mein Leben drängen. Er wusste nur zu gut, dass sich ein Verlust wie der von Monsieur Kauffmann nicht leicht verwinden ließ. Er respektierte meinen Schmerz. Ich bin für dich da, falls du mich brauchst. Danke, Fernand, danke. Ich weiß das Angebot zu schätzen, aber eigentlich will ich
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