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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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wenn du das Heim verlässt. All die vielen Leute auf der Straße, in der U-Tube, du wirst ihnen nicht ausweichen können. Wie sollst du das aushalten, wenn du nicht im Vorfeld übst?«
    Ich habe ihn wortlos angesehen.
    »Wenn du dir keine Mühe gibst, wirst du nie bereit sein«, fügte Fernand mit Nachdruck hinzu. »Und dann wird man dir möglicherweise nicht erlauben, das Heim zu verlassen.«
    »Heißt das, man könnte es mir selbst dann verbieten, wenn ich volljährig bin?«
    »Genau, Lila. Was soll man sonst tun, wenn du dich als nicht gesellschaftsfähig erweist?«
    Mir stockte das Blut in den Adern, als ich erkannte, dass die Forderungen der Kommission keineswegs blanke Willkür waren. Sie wurden von äußeren Umständen diktiert. Wollte ich je Gelegenheit bekommen, das Heim zu verlassen und meine Mutter wiederzufinden, musste ich mich dem aussetzen: klebrigem Hautkontakt, üblem Mundgeruch, verbrauchter Luft, dieser widerlichen drangvollen Enge des sozialen Miteinanders. Wie hatte ich geglaubt, dem entgehen zu können? Angstvoll flüsterte ich:
    »Fernand, ich will auf keinen Fall zu den Gestörten zurück. Helfen Sie mir, bitte.«
    »Da kann ich dich beruhigen, Lila. Ich habe eine Lösung gefunden, oder besser gesagt, eine Alternative. Ich habe sie der Kommission vorgetragen, und sie hat sich einverstanden erklärt.«
    »Und wie lautet diese Alternative, Fernand?«
    »Du wirst bei mir zu Hause zu Mittag essen. Meine Frau Lucienne freut sich schon darauf, dich kennenzulernen.«
    Sie erwartete uns in der Diele, eine recht hübsche Brünette mit einem warmherzigen Lächeln auf den bleichen Lippen, doch sie war insgesamt so dürr und blass, dass ich mit den Worten herausplatzte:
    »Sie sehen aber schlecht aus!«
    »Lila!«, rief Fernand.
    Lucienne lächelte unbeirrt weiter.
    »Lass gut sein, Fernand. Du sagst es doch selbst.«
    Dann bat sie mich ins Wohnzimmer, während Fernand in die Küche ging, um das Mittagessen zuzubereiten. Wir setzten uns beide auf das große Sofa. Gegenüber döste auf einem Sessel ein prachtvoller Regenbogen-Abessinier mit leuchtend mauvefarbenem Fell.
    »Er heißt Pascha«, nahm Lucienne meine Frage vorweg. »Und der Name ist wie für ihn geschaffen.«
    Ich wiederholte:
    »Pascha …«
    Der Kater hob den Kopf und richtete seine nilgrünen Augen auf mich.
    »Er scheint sich ja für dich zu interessieren!«, bemerkte Lucienne.
    Sofort drehte Pascha die Schnauze weg und vergrub sich wieder in die Sesselmulde.
    Lucienne lachte.
    »Manchmal habe ich den Eindruck, dass er jedes Wort versteht und sich einen bösen Spaß daraus macht, mir zu widersprechen.«
    »Das ist durchaus möglich. Laut einigen Studien gibt es Anzeichen dafür, dass genmanipulierte Tiere intelligenter sind. Das habe ich vor kurzem gelesen.«
    »Na dann«, murmelte Lucienne. »Der Fortschritt ist wirklich unaufhaltsam.«
    Fernand rief aus der Küche: Essen ist fertig! , zugleich drang ein kräftiger Geruch nach Gegrilltem zu uns. Lucienne wisperte:
    »Er hat Spießchen gemacht …«
    Mir wurde übel.
    »Stört es Sie, wenn ich das Fenster öffne?«
    »Nur zu, fühl dich wie zu Hause. Ich finde es auch zu warm.«
    Als frische Luft den Raum erfüllte und die Essensgerüche vertrieb, spürte ich, dass sie genauso erleichtert war wie ich.
    Ich aß mit angehaltener Luft, wie üblich. Lucienne hingegen beäugte zaudernd den Spieß auf ihrem Teller. Drei fette, marinadetriefende Heuschrecken, die sie, auf dem Stab aufgereiht, zu verspotten schienen. Fernand drückte ihr die Schulter.
    »Gib dir einen Ruck, Liebling, versuch es wenigstens …«
    Sie nickte und begann zu essen, kaute dabei sehr langsam, fast wie in Zeitlupe. Es kostete sie große Überwindung, sie gab sich alle Mühe, und es tat weh zu sehen, wie sie mit jedem Bissen kämpfte.
    Dennoch ging das Mittagessen glatt über die Bühne. Lucienne stellte mir einen Haufen Fragen: Ob ich mich im Heim wohl fühlte, welche Fächer ich lernte, wie mein Zimmer aussah … Zunächst dachte ich, dass das vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver war, damit sie nicht aufessen musste. Aber dann stellte ich fest, dass sie sich offenbar wirklich für mich interessierte.
    Ich gab ihr bereitwillig Antwort und achtete darauf, das Heim nicht zu verunglimpfen. Vorsicht war angebracht, für den Fall, dass die Kommission die Bänder zur Sichtung anfordern würde. In Fernands Beisein konnte ich mir ohnehin keine unbedachten Äußerungen erlauben. Und so habe ich Zufriedenheit demonstriert,

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