Die Ballade der Lila K
passiert.
Ich höre, dass sie aufsteht, aber ich bleibe hocken, das Gesicht mit beiden Händen bedeckt. Sie mag es nicht, wenn ich Augen mache wie ein geprügelter Hund. Das ärgert sie, das reizt sie, sie fasst es als Vorwurf auf. Dabei werfe ich ihr nichts vor. Ich weiß nicht so recht, was das bedeutet, Augen machen wie ein geprügelter Hund . Es sind doch meine Augen. Sie mag meine Augen nicht. Ich hätte gern andere, aber wie soll ich das anstellen? Also schließe ich sie ganz fest, wenn sie an mir vorbeigeht. Ich darf auf keinen Fall ihrem Blick begegnen.
Nachdem sie vorbeigegangen ist, spähe ich zwischen den Fingern hindurch. Sie schwankt nackt umher, nur von ihren langen Haaren bedeckt. Sie öffnet den Vorratsschrank: Scheiße, nichts mehr da, ich glaub’s nicht! Sie durchwühlt alles, murmelt mit belegter Stimme verdammte Kacke und wird schließlich fündig. Ich höre, wie sie den Deckel aufzieht, dann das metallische Klirren, als sie den Deckel in die Spüle wirft. Sie steckt einen Plastiklöffel, den sie vom Tisch geklaubt hat, in die Dose, hier, Kleine , streicht mir über die Wange, iss nicht zu schnell, sonst kriegst du Bauchweh . Dann legt sie sich wieder hin und dämmert weg.
An guten Tagen sagt sie: Komm, mein Schatz. Komm zu mir. Sie klopft aufs Bett. Ich tripple hin, halte dabei meine Dose mit beiden Händen fest und setze mich an den Bettrand. Sie legt mir den Arm um die Taille, schmiegt die Wange an meine Hüfte, während ich voller Verzückung esse und still vor mich hin weine, weil es so unglaublich gut schmeckt, weil ich so unglaublich glücklich bin, weil mein Hunger in jeder Hinsicht gestillt ist.
Danach strecke ich mich neben ihr aus und bleibe stundenlang liegen, ohne mich zu regen, ich achte darauf, sie ja nicht zu berühren. Ich darf sie nicht stören, niemals. Ich lausche ihrer gleichmäßigen Atmung. Ich wärme mich auf, zwei Fingerbreit von ihrem Körper entfernt. Es ist so schön, sie bei mir zu haben, ganz nah. Noch haben wir ein bisschen Zeit, bevor sie aufsteht, um arbeiten zu gehen.
Beim Aufwachen konnte ich mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern, aber immerhin hatte ich sie wiedergesehen. Ich hatte von ihr geträumt, das genügte, um erst mal eine Runde zu heulen. Ich wusste, das hatte ich der Dose zu verdanken, die ich noch in Händen hielt, diesem köstlichen Geschmack, der aus dem Abgrund der Vergessenheit heraufgestiegen war. Was sonst? Um sicherzugehen, habe ich die letzten Gelatinespuren vom Deckel abgeleckt, aber das reichte nicht, um sie erscheinen zu lassen. Die paar Bröckchen waren zu wenig, selbst wenn man sie noch so gründlich aufschleckte.
Als ich mit der Zunge nur noch gegen Metall stieß, schluckte ich meine Tränen hinunter. Es hatte keinen Sinn weiterzumachen, es blieb mir nichts anderes übrig, als den nächsten Besuch abzuwarten, die nächste Dose und damit die Verheißung eines weiteren Traums. Wieder einmal hieß es warten. Das machte mir nichts aus, ich war es gewohnt, außerdem war ich sicher, wie im Fall von Monsieur Kauffmanns Versprechen, dass es sich lohnen würde.
Ich presste die Dose mit aller Kraft gegen den Boden. Das Metall ließ sich mit dem Handteller leicht flach drücken. Ich habe es in dem kartonierten Einband meines dicken Lexikons versteckt. Dort würden sie garantiert nicht nachschnüffeln. Vor Büchern hatten sie nämlich eine Heidenangst.
Am Sonntag danach habe ich sie wieder besucht, wie auch in den darauffolgenden Wochen. Lucienne ging es blendend. Sie aß weiterhin für vier und war schon kugelrund, fast fett, obwohl ihre Schwangerschaft gerade erst begonnen hatte. Sie und Fernand trugen ihr Glück unablässig zur Schau, denn sie wollten es unbedingt mit mir teilen, aber das war nicht so einfach. Zum Glück gab es Pascha, sein goldgelbes Fell war wie eine seidenweiche Sonne, die mir die Finger wärmte.
Ende Mai fand die erste Ultraschalluntersuchung statt, ohne Auffälligkeiten zu ergeben. Das Baby war wohlauf, noch im Garnelen-Stadium – drei Zentimeter –, doch in Luciennes Augen war es bereits vollendet. Sie sprach pausenlos zu ihm, als könnte es sie hören, ja sogar verstehen, denn das war ihre Theorie: Der Kleine verstand, empfand alles im Einklang mit ihr. Jeden Tag spielte sie für ihn Cello, hielt das Instrument fest gegen den gewölbten Bauch gedrückt, stundenlang, der Bogen verlängerte ihre hübsche Hand, ihr zartes Handgelenk tanzte im Licht auf und ab. Wenn sie vom Baby sprach, sagte sie oft lachend:
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