Die Ballade der Lila K
hat es weiter versucht: Das geht nicht, Lucienne, das können wir nicht tun , aber sie wollte partout nicht auf ihn hören. Sie war vollkommen außer sich und brüllte mit beiden Händen auf dem Bauch, das Kind dadrinnen, das gehöre ihr. Sie habe es sich von ganzem Herzen gewünscht, und wenn es verkorkst sei, spiele das keine Rolle, sie würde es in jedem Fall annehmen. Sie habe es ohnehin längst liebgewonnen. Niemals würde sie zulassen, dass man es wegmachte. Eher wolle sie sterben.
Den Ärzten sagte Fernand nichts. Er wollte Lucienne beschützen. Er wusste, dass man sie nicht schonen würde, wenn man von ihren Tränen, ihrem Geschrei, ihrer Verweigerungshaltung Wind bekäme. Man würde erneut psychiatrische Untersuchungen veranlassen. Ihr ganzes Leben würde auf den Prüfstand gestellt. Vielleicht würde man ihnen sogar die amtliche Genehmigung entziehen und damit jede Hoffnung auf ein weiteres Kind zunichtemachen.
Der Abbruch wurde für den 2 . September angesetzt. Fernand hat sich gar nicht getraut, es Lucienne mitzuteilen. Sie wiederholte unentwegt: Ich warne dich, wenn man es mir wegnimmt, bringe ich mich um. Er hielt sie durchaus für fähig, ihre Drohung wahrzumachen, konnte aber mit niemandem darüber sprechen. Er hatte Angst vor den Ärzten. Er hatte Angst vor Lucienne. Er sah keinen Ausweg.
In der Zwischenzeit stopfte er sie mit Beruhigungsmitteln voll, die sie restlos benommen machten. Wenn sie nicht schlief, weinte sie nur. Ziehen wir es durch, sagte er, ich kann sie nicht so leiden sehen. Ziehen wir es endlich durch. Dann können wir die Sache vergessen und einen Neuanfang wagen. Er täuschte sich gewaltig, wenn er sich das so einfach vorstellte, aber ich brachte es nicht übers Herz, ihm das zu sagen. Im Grunde glaubte er wohl selbst nicht daran.
Lucienne verschwand am 28 . August. Als Fernand von der Arbeit nach Hause kam, fand er die Wohnung verlassen vor. Sie hatte ihre Papiere, ihre Kreditkarte und das Cello mitgenommen, sonst nichts. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf ihren Zufluchtsort – hatte sie überhaupt einen? Nur ein paar Zeilen auf ihrem Grammabook: Ich gehe mit dem Baby weg. Du brauchst mich nicht zu suchen. Lucienne.
Fernand wollte keine Polizei einschalten.
»Die kann da nichts ausrichten. Lucienne ist freiwillig gegangen. Das Verlassen des ehelichen Wohnsitzes ist keine Straftat.«
»Und wenn Sie Luciennes Schwierigkeiten in letzter Zeit erwähnen, ihren Geisteszustand, die Selbstmorddrohungen? Das würde für eine Vermisstenanzeige ausreichen. Und sie würden sie anhand ihres Sternalimplantats sehr schnell ausfindig machen.«
Fernand schüttelte traurig den Kopf.
»Und dann? Was meinst du, was sie dann mit ihr anstellen? Sie nehmen eine Zwangseinweisung vor und lassen den Eingriff gegen ihren Willen durchführen. Das kommt nicht in Frage! Da will ich lieber gar nicht wissen, wo sie steckt.«
Bei aller Verzweiflung wollte Fernand nicht untätig bleiben, und so fasste er den Entschluss, Lucienne auf eigene Faust wiederzufinden. Wie sich herausstellte, ging das recht leicht. Dazu musste er nur den Speicher ihres Grammabooks durchforsten.
Als er den Verlauf überprüfte und sämtliche Webseiten aufrief, die Lucienne besucht hatte, stellte er bald fest, dass sie sich in den Tagen vor ihrem Verschwinden stundenlang auf der Homepage der Vesalius-Stiftung aufgehalten hatte. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Dr. Vesalius ist Ihnen sicher ein Begriff – er ist bekannt wie ein bunter Hund: als Arzt, Wohltäter, Zuhälter, Showproduzent und Zirkusdirektor, als Freund der Entstellten und Ausgegrenzten , wie er sich in seinen Netzanzeigen gern selbst anpreist. Manchen gilt er als leibhaftiger Teufel, ein Teufel, der jedoch unantastbar und außerordentlich gut beraten ist. Sowohl das Gewerbeaufsichtsamt als auch das Sittendezernat versuchen schon seit Ewigkeiten, ihn dingfest zu machen, aber sie konnten ihm nie auch nur das kleinste Vergehen nachweisen: Der Teufel handelt durch und durch legal, zumindest nach außen hin – seine Rechtsabteilung wacht unermüdlich darüber. Seine Einrichtung floriert, und Dr. Vesalius hat mit den Megashows, die er zonenweit veranstaltet, den Ausstellungen von Fettleibigen und siamesischen Zwillingen, seinem Monster-Orchester, seinen Chimären-Bordellen und speziellen Filmchen ein Milliardenvermögen angehäuft.
In den Augen von Lucienne und von vielen anderen war Dr. Vesalius jedoch keineswegs der Teufel. Er war der Retter, der
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