Die Ballade der Lila K
Luciennes Gelüsten , dass sie mir gleich eine ganze Liste aufzählten: Erdbeeren und Äpfel, Reiscreme, Kalbsleber, fast hätte ich gekotzt. Die zwei gingen mir furchtbar auf den Geist, mit ihrem strahlenden Glück und ihren albernen Geschichten von Paprika-Nieren um drei Uhr in der Früh! Sie nervten mich so sehr, dass ich meine Skrupel und meine Angst in den Wind schlug. Ich nahm mir vor, endlich zur Tat zu schreiten. Warum auch nicht? Nach allem, was ich mit ihnen erdulden musste. Als Fernand aufstand, um Luciennes Tofu zu grillen, habe ich ihn in die Küche begleitet.
Die Dosen stapelten sich unten im Vorratsschrank. Es war nicht schwer, eine zu nehmen und sie diskret unter meinen Pulli zu schieben. Danach gab ich vor, ein Taschentuch aus meiner Regenmanteltasche zu holen, und ließ bei dieser Gelegenheit die Dose hineingleiten.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte ich einen roten Kopf und war ziemlich nervös. Das fiel ihnen gar nicht auf, Lucienne war zu sehr damit beschäftigt, ihre Tofuwürfel zu knabbern, und Fernand war zu sehr damit beschäftigt, ihr dabei zuzusehen. Nur Pascha heftete seinen eigenartigen Blick auf mich. Kurz hatte ich das Gefühl, dass er Bescheid wusste, aber das konnte natürlich nicht sein, das hatte ich mir bloß eingebildet. Ich wartete noch ein paar Minuten, bis Lucienne ihren Teller leer gegessen hatte, und dann sagte ich:
»Es tut mir leid, aber ich bin auf einmal so müde. Fernand, würde es Ihnen etwas ausmachen, mich zurückzubegleiten?«
Als ich wieder in meinem Zimmer war, habe ich der Versuchung widerstanden, mich gleich auf die Dose zu stürzen. Ich wurde nicht mehr so streng überwacht wie früher, das hatte ich von Fernand erfahren. Ich galt nicht mehr als Risiko-Zögling. Trotzdem waren jederzeit stichprobenhafte Kontrollen möglich. Und so habe ich lieber gewartet.
Nach dem Zapfenstreich bin ich ins Bett geschlüpft, die kleine Dose hielt ich in den Nachthemdfalten versteckt. Ich habe mir Laken und Decke über den Kopf gezogen und dann sachte an der Lasche gezupft.
Sofort wurde der Geruch freigesetzt, verführerisch und durchdringend. Ich konnte nicht mehr widerstehen. Ich habe die Finger in die Dose gesteckt – es fühlte sich warm und geschmeidig an –, sie wieder herausgezogen, über und über mit Pastete beschmiert, und sie mir in den Mund geschoben. Meine Zunge schien zu explodieren, mir wurde ganz schwindlig vor Lust. Als es ans Schlucken ging, habe ich mir an die Brust gefasst. Mein Herz raste, mindestens 130 Schläge pro Minute, eher mehr. Zunächst hatte ich Angst, das Bewusstsein zu verlieren, aber es ist nichts passiert – mein Herz hielt stand. Ich war vollkommen berauscht. Ich wollte mehr. Ich brannte vor Gier, vor Leidenschaft, wie bei einem langersehnten Wiedersehen. Ich habe die Finger noch mal in die Dose gesteckt und sie leer gegessen. Ich war wieder das kleine Mädchen von früher, das sich in seine kuschelige Höhle verkroch. Schluchzend vor Freude leckte ich mir die Finger ab, und das Salz meiner Tränen vermischte sich mit dem zarten Schmelz, der mir den Mund füllte. Danach sank ich auf Grund.
Ich habe Hunger. Sie schläft im großen Bett. Ihr Gesicht wird von den zerzausten Haaren verdeckt. Ich würde es so gern wiedersehen, nach all den Jahren. Ich könnte hingehen, ihr die Haare aus dem Gesicht streichen und ihre Züge in aller Ruhe betrachten, um diese unfassbare Gedächtnislücke auf einen Schlag zu tilgen. Aber ich habe Hunger, das lässt mir keine Ruhe. Ich bin zu klein, um die Küchenschränke zu öffnen. Es gibt keinen Stuhl, auf den ich steigen könnte. Ich sammle die Krümel vom Tisch. Auf dem Boden finde ich die Dose vom Vortag und kratze mit dem Finger die hauchdünne Schicht ab, die am Rand angetrocknet ist. Das wird den Magen vorerst beruhigen.
Sie schlägt die Augen auf, endlich. Ich bin vorsichtig und warte noch ein bisschen, bis sie aus den Tiefen aufgetaucht ist. Ich weiß, dass sie Zeit braucht, um die Benommenheit abzuschütteln. Mein Bauch krampft sich zusammen.
»Mama, ich habe Hunger.«
Sie zieht eine Grimasse.
»Nicht so laut, Kleine, mir platzt gleich der Schädel.«
Wenn sie dieses Gesicht macht, droht es gefährlich zu werden, es kann dann sehr schnell gehen. Ich habe Angst, dass sie wütend wird, wenn ich nicht aufhöre, aber ich bin viel zu hungrig, um sie in Ruhe zu lassen. Ich wiederhole: Mama, ich habe Hunger. Ich habe Hunger, Mama. Dann kauere ich mich zusammen und warte ab, was
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