Die Ballade der Lila K
Ich werde aus ihm einen Musiker machen.
Darüber vergingen Wochen, der Juni, der Juli. Allmählich gewöhnte ich mich. Ihr Glück störte mich nicht mehr so sehr. Ich glaube, ich teilte es sogar.
Bei jedem Besuch brachte ich die leere Dose von meinem vorangegangenen Festmahl mit, sorgfältig in meiner Handtasche versteckt. Ich fand stets Mittel und Wege, sie diskret in den Wertstoffbehälter zu werfen, und nutzte die Gelegenheit, um im Vorbeigehen eine neue Dose aus dem Vorratsschrank zu stehlen. Abends bereitete ich mir dann die einsame Freude, voller Tränen und Seligkeit. Und meine Mutter kehrte zu mir zurück, immer derselbe Traum am Bettrand. Die Zeit des Versprechens nahte, da war ich mir sicher. Bald würde ich alles in Erfahrung bringen.
In manchen alten Legenden heißt es, die Götter könnten das Glück der Sterblichen nicht ertragen. Es sei ihnen zu laut, zu anstößig, und vor allem gelte es ihnen als Verhöhnung aller Unglücklichen. Nein, die Götter haben für glückliche Menschen nichts übrig. Um sie zum Schweigen zu bringen, ersinnen sie furchtbare Schicksalsschläge, die ihnen für immer die Lebensfreude rauben. Natürlich sind das nur Legenden, Märchen aus uralten Zeiten. Es gibt keine Götter. Wenn ich aber bedenke, was Lucienne und Fernand widerfahren ist, frage ich mich zuweilen, ob man vielleicht doch daran glauben sollte.
Ende Juli hat die zweite Ultraschalluntersuchung das Geschlecht des Babys enthüllt – ein Junge – sowie eine Atrophie der oberen Gliedmaßen: Die Unterarme hatten sich nicht entwickelt. Sie waren nur angedeutet, zwei Auswüchse, die in winzige Spitzen mündeten, Fingerembryonen.
Daraufhin wurden die Ermittlungen eingeleitet. Man hat die Karyotypen von Lucienne und Fernand und ihrer Vorfahren über drei Generationen untersucht. Man hat ihre Lebensweise unter die Lupe genommen, minutiös aufgelistet, was sie Tag für Tag getrunken, gegessen und eingeatmet hatten, um etwaige teratogene Substanzen aufzuspüren. Man hat sämtliche Orte überprüft, die sie in den vergangenen zehn Jahren aufgesucht hatten, die Wohnung abgekämmt, Proben genommen. Sogar Pascha stand unter Verdacht. Aber man hat nichts gefunden. Mitte August wurden Lucienne und Fernand offiziell entlastet. Sie hatte keinerlei Unvorsichtigkeiten begangen. Atrophie der Unterarme. Daran war niemand schuld, es war bloß Pech. Da war die Versicherung gefragt.
Fernands Versicherung deckte alle Kosten: Transplantation, Reha-Maßnahmen, einfach alles. Sie haben den Schock ganz gut verkraftet. Die Ärzte beteuerten, dass es bei einer entsprechenden Behandlung so gut wie keine Spätfolgen geben würde. Das Kind könnte gewissermaßen ein ganz normales Leben führen. Also hatten sie allen Grund zum Optimismus.
Aber die Götter sind verbissen, sie geben sich nicht so schnell geschlagen. Ein paar Tage später ergaben weitere Tests, die von der Versicherung verlangt wurden, dass beim Fötus eine Mutation im IT 15 -Gen auf Chromosom 4 p 16 . 3 vorlag – sie bestand in einer abnormal häufigen Wiederholung des CAG -Tripletts. Anders gesagt, trug der Fötus das Huntington-Gen. Eine verdammte Sauerei: Wenn diese unheilbare Krankheit einmal ausbricht, macht sie einem das Gehirn zu Brei und bringt einen vor dem sechzigsten Lebensjahr um. Lucienne und Fernand wollten es zunächst nicht glauben. Ihre jeweiligen Karyotypen hatten nicht die geringste Abweichung gezeigt. Wie hätten sie ihrem Kind eine Krankheit vererben können, die sie selbst gar nicht trugen? Man erklärte ihnen, dass es sich um den höchst seltenen Fall einer Neumutation handelte – einer Genmutation, die in den Geschlechtszellen oder vielleicht sogar nach Befruchtung der Eizelle aufgetreten war. Damit war die Versicherung jeglicher Haftung enthoben. Das war nun wirklich Pech. Die Schwangerschaft musste abgebrochen werden.
Lucienne fand sich nicht damit ab. Sie sagte zu Fernand: Alles, nur das nicht. Das bringe ich nicht fertig. Niemals. Sie hatte schon so lange auf dieses Kind gewartet, sie wollte sich nicht davon trennen. Fernand hat versucht, sie zur Räson zu bringen: Lucienne, ist dir eigentlich klar, was das heißt? Wie sollen wir das schaffen, wenn die Versicherung nichts übernimmt? Und was hätte das Kind für ein Leben, Lucienne, ohne Versicherung und stets mit diesem Damoklesschwert über dem Haupt? Was hätten wir dann für ein Leben? Ihre Antwort war: Ist mir ganz egal, das ist mein Kind, und ich lasse nicht zu, dass du es mir wegnimmst. Er
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