Die Ballade der Lila K
mangelnde Gesellschaftsfähigkeit bescheinigen und dir keine Genehmigung erteilen, das Heim zu verlassen. Das heißt, du bleibst entweder hier oder kommst in ein anderes Sozialisierungsprogramm für junge Erwachsene.«
»Aber … für wie lange?«
»Bis du offiziell für gesellschaftsfähig erklärt wirst.«
»Und wie lange dauert so was?«
»Das kann ein Leben lang dauern.«
Ich habe mich kurz gefragt, ob das vielleicht überspitzt war, bloß um mir einen Schrecken einzujagen. Aber nein, er meinte es sichtlich ernst. Schließlich war Fernand nie zu Scherzen aufgelegt. Mist.
»Du willst doch hier raus, Lila, oder nicht?«
»Sicher.«
»Dann müssen wir das in Angriff nehmen. Und zwar sofort. Bis zur Prüfung bleibt uns gar nicht so viel Zeit. Du musst dich vorbereiten. Und ich werde dir dabei helfen.«
»Was haben Sie vor?«
»Ich möchte dich wieder auf die Beine bringen – ich meine, richtig auf die Beine bringen, damit du eine echte Chance hast, die Prüfung zu bestehen, wenn es so weit ist.«
»Stehen meine Chancen denn so schlecht?«
»So schlecht nicht, aber wir müssen daran arbeiten. Du bist so … na ja … du hast ein paar Eigenheiten, die dich wirklich … aus dem Rahmen heben.«
»Ich bin anders, ich weiß. Monsieur Kauffmann hat es mir oft genug gesagt. Für ihn war das anscheinend kein Problem.«
»Er interessierte sich ja gerade für die Besonderheiten eines Menschen.«
»Sie nicht, Fernand?«
»Das ist hier nicht die Frage. Ich versuche nur, gezielt vorzugehen und deine Wiedereingliederung nach Kräften zu unterstützen. Monsieur Kauffmann vertrat die Ansicht, dass es … dass es nicht schade, die Zöglinge ihre … ihre Eigenarten ausprägen zu lassen. Ich habe diese Ansicht lange Zeit geteilt. Doch jetzt wird mir klar, dass das ein Irrtum war. Eine durch und durch weltfremde Haltung.«
»Liegt es an Lucienne, dass Sie das jetzt anders sehen?«
Er antwortete nicht. Ich wusste auch so, dass ich den Finger in die Wunde gelegt hatte. Seufzend sagte ich:
»Und was wollen Sie nun mit mir anstellen?«
»Dich in den Rahmen einpassen. Dich gewöhnlicher machen, wenn dir das besser gefällt.«
»Au ja, Fernand, gewöhnlicher gefällt mir viel besser: Es begeistert mich geradezu!«
Die Ironie überging er geflissentlich.
»Monsieur Kauffmann wollte stets die ungewöhnlichen Fähigkeiten fördern, die er bei dir entdeckt hatte, diese seltenen Talente und seltsamen Eigenschaften, die dich … die deine Faszination ausmachen. Auf diese Weise hat er dich aber auch noch stärker zum Sonderling gemacht. Damit hat er dir wohl keinen Gefallen getan, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ich versteh schon, Fernand.«
»Noch ist nichts verloren. Wir können dir das sonderbare Verhalten durchaus abgewöhnen, sodass du in die Lage versetzt wirst, dich unauffällig unter die Leute zu mischen. Da bin ich recht zuversichtlich: Wenn wir gleich damit anfangen, können wir es schaffen. Es setzt aber voraus, dass du dich auf das Spiel einlässt. Einverstanden?«
Ich erklärte mich einverstanden – mir blieb nichts anderes übrig. Da lächelte Fernand zum ersten Mal, seit Lucienne ihn verlassen hatte.
Von diesem Tag an habe ich mich streng an seinen Lehrplan gehalten. Ich habe mich – zumindest nach außen hin – bemüht, das fade, normale Mädchen zu werden, das ihm vorschwebte. Das war nicht leicht. Dafür musste ich einen weiten Weg zurücklegen, der mir ungeheure Anstrengung abverlangte. Am schlimmsten war das unablässige Gefühl, Monsieur Kauffmann zu hintergehen, weil ich alles preisgab, was er für mich gewollt hatte. Fernand beharrte aber darauf: Wenn ich das Heim bei Erreichen der Volljährigkeit verlassen wollte, war das der einzige Weg. Und so habe ich versucht, jegliche Gefühle zu unterdrücken.
Ich habe Fernands Befehle ausnahmslos befolgt und seine ständigen Zurechtweisungen über mich ergehen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken – halt dich gerade, kämm dir mal die Haare, wie siehst du denn wieder aus, erspar mir deine unflätigen Ausdrücke und hör endlich auf, dir alle naselang die Brille aufzusetzen! Im Lauf der Zeit habe ich gelernt, mich gerade zu halten, mich zu kämmen, mich gepflegt auszudrücken und vor allem, die anderen nachzuahmen. Fernand zufolge war Nachahmung der Schlüssel zum erfolgreichen Zusammenleben, seine wichtigste Grundlage. Um mir das richtige Verhalten vorzuführen, zeigte er mir Spiel- und Dokumentarfilme; ich sollte die Gesten, Repliken,
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