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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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Grußformeln, ja manchmal ganze Dialoge auswendig lernen. Mit diesem Rüstzeug dürftest du für jede Gelegenheit gewappnet sein. Du wirst sie alle hinters Licht führen. Darum ging es also: andere zu täuschen. Meine wahre Persönlichkeit fiel nicht ins Gewicht, solange ich immer schön den Schein wahrte.
    Manchmal, wenn es mir zu viel wurde, stieg ich auf das Dach, um mit meinem Kaleidoskop zu spielen. Ein paar Minuten lang verwandelte ich die Welt in einen bunten Wirbel und stieß alle Konventionen von der Dachkante. Zwar taten mir die Augen höllisch weh, aber trotzdem wurde mir leichter ums Herz. Ich sagte Verse auf, brüllte die derbsten Schimpfwörter hinaus, wie früher mit Monsieur Kauffmann. Das tat richtig gut, Ausdrücke wie närrische Ausgeburt einer tollwütigen Rättin und so was von affenarschmäßig verschissen zwischen die Alexandriner zu streuen. In meinem Zimmer brachte ich dann Stunden damit zu, im Lexikon nach den rarsten und kompliziertesten Wörtern zu suchen, deren Definitionen ich auswendig lernte. Kurzum, ich tat, was ich konnte, um mir vorzugaukeln, dass ich Monsieur Kauffmanns Andenken letzten Endes doch in Ehren hielt.
    Ich glaubte immer noch an ihn, an das Versprechen, das er mir gegeben hatte. Das half mir, alles zu ertragen: das Leben im Heim und das Leben, das mir anschließend blühte. Jedes Mal, wenn ich vom Dach aus auf die riesige, fast unendliche Stadt hinunterblickte, in der es von Menschen und Dingen nur so wimmelte, wurde mir bewusst, wie sehr diese Welt mich erschreckte, wie fremd sie mir war. Allein bei der Vorstellung, dass ich mich eines Tages in das Getümmel dort unten würde mischen müssen, wurde mir schwindlig. Ich war dafür nicht geschaffen. Und ohne die Hoffnung, irgendwo in diesem Getümmel meine Mutter wiederzufinden, die mir wie eine zähe Blume mit kräftigen Wurzeln in die Brust eingepflanzt war, hätte ich wohl nie den Mut dazu gefasst.
    Im März 2106 trat Fernand der Kommission bei. Mit seinen zweiunddreißig Jahren war er das jüngste jemals gewählte Mitglied – eine stattliche Beförderung, die ihn bestimmt unzählige Zugeständnisse und Katzbuckeleien gekostet hatte. Ich hätte gute Gründe gehabt, es ihm zu verübeln, nach allem, was diese Saubande Monsieur Kauffmann angetan hatte. Aber ich schaffte es einfach nicht. Ich wusste, wie unglücklich er war; ich wollte ihn nicht zusätzlich quälen. Er hatte mehrmals versucht, mit Lucienne Kontakt aufzunehmen. Er wollte sie wiedersehen, ihr gemeinsames Kind kennenlernen, die Verbindung nicht abreißen lassen. Doch sie hatte sich nie gemeldet. Mit Ausnahme dieser einen Nachricht: Lass uns bitte in Ruhe. Er fügte sich und schrieb ihr keine Briefe mehr. Ich ahnte, dass er sich deswegen in die Arbeit gestürzt hatte und unbedingt Mitglied der Kommission werden wollte. Die Karriere. Vom trübsinnigen Kater abgesehen, war ihm nichts anderes geblieben.
    Er kümmerte sich nach wie vor um mich, ermutigte und ermahnte mich immer wieder. Ich befolgte seine Anweisungen – dafür hatte ich schließlich schon immer ein Händchen gehabt. Und ich machte rasante Fortschritte. Kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag war ich zur täuschend echten Verkörperung einer normalen Person geworden. Ich kämmte mich jeden Morgen. Ich schlief nicht mehr unter meinem Bett. Ich verwendete keine derben Ausdrücke mehr – wenn ich nicht gerade allein war. Ich hatte voll und ganz verinnerlicht, was sich gehört und was nicht. Ich war, mit einem Wort, halbwegs vorzeigbar. Es gab noch den einen oder anderen heiklen Punkt – meinen Widerwillen gegen jede Berührung und meinen gewaltigen Appetitmangel –, doch im Großen und Ganzen glückte die Täuschung. Fernand war begeistert. Das hätte ich am Anfang nie zu hoffen gewagt! Inzwischen war er der Meinung, dass ich gute Chancen hatte, die Eignungsprüfung zu bestehen.
    Ich hätte mich wohl auch freuen sollen, aber ich schaffte es nicht, wegen meiner Mutter. Ihretwegen hatte ich mich derart angestrengt. Um sie wiederzufinden. Das war nach wie vor mein einziges Ziel, das definierte seit jeher meinen Horizont, doch nun kam der mir so verstellt und verschwommen vor, dass ich mir ernsthaft Sorgen machte. Ich hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt. Bloß ein paar Erinnerungsfetzen, die zu dürftig waren, um mir den Weg zu weisen.
    Natürlich gab es da noch das Versprechen von Monsieur Kauffmann. Seit seinem Tod waren jedoch fünf Jahre vergangen. Obwohl er mir jedes Mal einbläute, dass ich

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