Die Ballade der Lila K
Entlassung aus dem Zentralheim war für den 31 . Oktober angesetzt. Fernand hatte mir allerdings deutlich zu verstehen gegeben, dass daraus keine vollkommene Freiheit folgte. Die ersten zwei Jahre galten als Probezeit, in der man mich laufend überwachen und bewerten würde – Fernand bezeichnete das euphemistisch als Betreuung. Das Zentralheim ließ seine ehemaligen Schützlinge nicht ohne weiteres ziehen.
Die Aussicht, sie noch so lange im Nacken zu haben, begeisterte mich nicht gerade. Das würde meinen Plänen eher hinderlich sein. Andererseits hatte ich das Gefühl, sie noch zu brauchen. Ihre fürsorgliche Kontrolle. Fernands Ratschläge. Auch wenn es weh tat, mir das einzugestehen.
Die letzten Wochen war ich gut beschäftigt. Die Heimärzte führten einen kompletten Check-up durch und setzten mir das Verhütungsimplantat ein. Ich habe ihnen wohlweislich verschwiegen, dass ich dafür kaum Verwendung finden würde.
Fernand half mir bei der Bestellung von Möbeln, Geschirr und Haushaltswäsche im Netz. Das alles wurde durch die Erstausstattungsprämie finanziert, die mir das Heim bewilligt hatte. Ich benötigte auch eine Garderobe, hatte aber keine Ahnung, was mir stehen würde. Fernand suchte für mich Kleidungsstücke in gedeckten Farben und von schlichtem, strengem Schnitt aus.
»So bist du überall richtig angezogen und fällst nicht unangenehm auf.«
Ich nickte beifällig. Ich wollte gern in der Masse untergehen und unbemerkt bleiben. Das kam mir sehr zupass. Jetzt musste ich nur noch eine Frage klären.
»Fernand, ich würde gern ein paar Pflanzen auf meinen Balkon stellen. Halten Sie das für machbar?«
»Woher rührt dieses plötzliche Interesse an Pflanzen?«
»Sie sind einfach schön. So grün. So heiter …«
Er warf mir einen Blick zu, der besagte: Ich kenne dich gut genug, meine Kleine, um zu wissen, dass du damit irgendwas ganz anderes bezweckst. Ich strahlte ihn unschuldig an. Selbst wenn er irgendeinen faulen Trick witterte, würde er garantiert niemals erraten, was ich im Schilde führte.
»Was ist? Sind Sie einverstanden?«
Er musterte mich noch eine Weile, versuchte, des Rätsels Lösung an meinem Gesichtsausdruck abzulesen, und gab dann schmollend auf.
»Von mir aus. Ein bisschen Grün kann schließlich nicht schaden.«
Und schon gab er die Stichworte »Grünpflanzen, Gartencenter« in die Suchmaske ein.
Als der große Tag endlich kam, verspürte ich keineswegs die erwartete Freude. Keinerlei Erleichterung. Keinerlei Aufregung. Stattdessen nur eine Art Beklemmung – es war wohl Traurigkeit. Zwölf Jahre lang war das Heim für mich ein Zuhause gewesen, ein Gefängnis, ein Kokon. Die Gewohnheit knüpft machtvolle Bande, die man nicht ungestraft löst.
Ich habe mein Zimmer geputzt, die Laken und Decken gefaltet, meine letzten Habseligkeiten eingesammelt. Danach habe ich mich von sämtlichen Aufsichtspersonen und Lehrern verabschiedet, die sich während dieser langen Zeit um mich gekümmert hatten. Dabei beschränkte ich mich auf reine Förmlichkeiten – Auf Wiedersehen und Danke . Ich würde keinen von ihnen vermissen, mit Ausnahme Takanos. Bei ihm war es etwas anderes: Zwölf Jahre tägliche Tuchfühlung hatten uns einander tatsächlich nähergebracht.
»Auf Wiedersehen, Monsieur Takano.«
»Auf Wiedersehen, Mickermäuschen.«
Er hüstelte ein paarmal, dann fragte er:
»Darf ich dich überhaupt noch so nennen?«
Ich nickte lächelnd.
»Auf Wiedersehen, Mickermäuschen. Ich wünsche dir Glück.«
»Monsieur Takano, ich muss Ihnen noch etwas beichten: Zum Schluss haben Sie mich fast gar nicht mehr angeekelt.«
»Ach, Mickermäuschen! Ein schöneres Kompliment hättest du mir gar nicht machen können!«
Ich wusste, dass das von Herzen kam.
Anschließend bin ich ein letztes Mal auf das Dach gestiegen. Dort oben wehte ein heftiger Wind, der einem schier den Kopf vom Rumpf riss. Ich weiß nicht, ob er es war, der meine Traurigkeit hinweggefegt hat, oder der freie Blick auf den Horizont. Ich war achtzehn Jahre alt, ich durfte endlich in die Welt hinaus, und ich wusste genau, wo es langgehen sollte. 124 ° Ost. Ex libris veritas. Inmitten der Wolken, die in der Ferne über den riesigen Bibliothekstürmen schwebten, zeichnete sich ganz deutlich das Lächeln meiner Mutter ab.
Der Shuttle holte mich am späten Nachmittag ab und fuhr mich bis zu meiner neuen Heimstatt. In der Wohnung fand ich alle Möbel und Gegenstände genau so platziert vor, wie ich es angeordnet hatte, und
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