Die Ballade der Lila K
Oberschenkel zu sehen, oder vom Arm, ich weiß es nicht mehr so genau, voller Blutergüsse. Überall Blutergüsse.
»Warum haben Sie mir nie davon erzählt, Fernand?«
»Wir haben immer wieder erwogen, mit dir darüber zu reden, Lila, aber … aber du hattest alles vergessen. Wirklich ALLES . Daraus haben wir geschlossen, dass es besser wäre, dich nicht voreilig damit zu konfrontieren.«
»Und was soll ich jetzt machen?«
»Jetzt machst du einfach weiter, als ob das alles nie geschehen wäre.«
Ich starrte immer noch auf den Bildschirm, auf die weiße Haut voller Striemen. Das war mein Körper. Das war nun in der Welt. Ich hatte es direkt vor Augen.
»Du erinnerst dich an nichts, Lila. An rein gar nichts. Diese Fotos und die ganzen Unterlagen, die du heute gesehen hast, sind wie ein längst verblasster Alptraum. Mit deinem Leben hat das nichts mehr zu tun. Mit dir hat das nichts mehr zu tun. Und das ist das Beste, was dir passieren konnte. Jetzt brauchst du nur noch dein Leben zu leben. Was die Zone angeht, musst du keine Angst haben. Sie wird nirgends Erwähnung finden, weder in deiner Akte noch in deinem Personalausweis, dafür sorgen wir. Niemand wird es je erfahren. Wenn du jetzt mitspielst und das Ganze wieder vergisst, hat es praktisch nie stattgefunden.«
Ich sah ihn bloß verwirrt an. Ich konnte ihm nicht so recht folgen.
»Ich … wir wissen natürlich, dass dir das nicht so leichtfallen wird. Aber wir lassen dich damit nicht allein. Hier im Heim sind wir solche Situationen gewohnt. Viele sind bereit, dich jederzeit zu unterstützen. Wir haben vorgesorgt, falls du Hilfe brauchst.«
»Offenbar sorgen Sie immer für alles vor.«
»Dafür sind wir da.«
»Ich pack das schon.«
»Das hoffe ich. Nein, ich bin davon überzeugt. Du bist so stark, Lila. So willensstark.«
»Ein Wort noch zu meiner Mutter, Fernand … Sie hat mir das nicht angetan. Bestimmt nicht. Sonst würde ich mich wohl daran erinnern, oder nicht?«
Die Nacht habe ich unter meinem Bett verbracht. Das hatte ich schon lange nicht mehr getan, aber nach dem, was mir da widerfahren war, konnte ich einfach nicht anders. Geschlafen habe ich dort nicht. Ich musste nachdenken – beides zusammen geht nicht.
»Heute haben sie mir meine Akte ausgehändigt.«
»Ich weiß Bescheid, Mädchen.«
»Das macht mir ganz schön zu schaffen. Ich hatte ja keine Ahnung, die Zone, die Fotos …«
»Das denk ich mir.«
»Ich weiß nicht, ob ich das verwinden kann.«
»Klar kannst du das!«
»Wenn ich wenigstens einen Anhaltspunkt gefunden hätte, der zu meiner Mutter führt. Aber ich habe nichts. Es gibt nichts.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Was meinen Sie damit?«
»Denk mal drüber nach.«
»Helfen Sie mir, bitte!«
Aber er war schon wieder weg.
Ich gab nicht auf. Ich suchte weiter. Mehrmals las ich den ersten Teil der Akte: meine Geburtsurkunde und die Arztberichte. Die Kleine strotzt vor Gesundheit. Spricht schon flüssig. Diese Sätze spendeten mir Trost – immerhin etwas, das die schrecklichen Fotos entkräftete. Die sah ich mir immer wieder an, um mich an den Anblick zu gewöhnen. Am Ende ähnelten die zerschundenen Körperteile abstrakten Gemälden. Weißen, bräunlichen, rosafarbenen Fragmenten. Wenn ich es recht bedenke, war es so vermutlich am besten: dass diese scheußliche, längst begrabene Geschichte sich in ein Kunstwerk verwandelte.
Monsieur Kauffmann sollte recht behalten. Die Akte barg mehr Informationen, als ich zunächst gedacht hatte. Und nun wusste ich, wie ich es anstellen würde.
Ende September wurde in Fernands Gebäude ein Apartment frei. Er setzte sich umgehend dafür ein, dass man es an mich vergab, und pries es in den höchsten Tönen an: Im 57 . Stock, ganz oben. Die Aussicht ist atemberaubend. Und wenn du mich brauchst, bin ich ganz in der Nähe. Du freust dich hoffentlich! Notgedrungen sagte ich ja, aber so ganz überzeugt war ich nicht.
Am folgenden Sonntag nahm mich Fernand mit, um mir die Wohnung zu zeigen. Die Hausmeisterin erwartete uns – sie würde die Führung übernehmen. Sie war noch abstoßender, als ich sie in Erinnerung hatte. Als ich sah, wie sie sich uns mit ihrem unförmigen Körper mühsam entgegenschleppte, flüsterte ich Fernand unwillkürlich zu:
»Wie kann man nur solche Kreaturen erzeugen?«
»Nicht so laut!«, wisperte er. »Sie hat ein sehr feines Gehör. Und starr sie bloß nicht an!«
Da setzte ich mir schnell die Sonnenbrille auf.
»Keine Sorge. Ich weiß
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