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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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Kein … kein Wunder, dass man dich anstarrt.«
    »Aber warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
    Er lachte.
    »Normalerweise stellt man das von ganz allein fest.«
    »Fernand«, fragte ich panisch, »was soll ich tun, wenn mich die Leute jetzt immer so anglotzen?«
    »Keine Angst. So schlimm ist das nun auch wieder nicht. Zieh dich möglichst schlicht an, am besten lange, weite Kleidungsstücke, wie ich es dir bereits empfohlen habe. Halte dich zurück. Und weiche vor allem den Blicken der Männer aus«, fügte er mit Nachdruck hinzu.
    Ich habe seine Ratschläge wieder aufs Wort befolgt: Für meinen ersten Arbeitstag in der Bibliothek zog ich einen schwarzen Rollkragenpullover und einen langen grauen Rock an. Strenger ging es nicht, aber das gab mir trotzdem nicht genug Halt. Ich war ängstlich und ein wenig bedrückt. Dennoch widerstand ich der Versuchung, Beruhigungstabletten zu schlucken, wohl wissend, dass ich für die kommenden Stunden vor allem einen klaren Kopf brauchen würde. Hilflos murmelte ich:
    »Leicht ist das nicht, wissen Sie.«
    »Ich weiß, Mädchen. Ich weiß.«
    »Wollen Sie mir nicht helfen?«
    »Du hast dir bisher immer allein zu helfen gewusst.«
    »Aber Sie waren stets in meiner Nähe.«
    Wirklich: Er war stets in meiner Nähe gewesen. Ein Gedanke genügte, um seinen Geist und seine Stimme heraufzubeschwören.
    »Sind Sie noch da?«, fragte ich.
    Er antwortete nicht.
    »Schon gut, kapiert. Dann versuche ich es eben auf eigene Faust«, seufzte ich.
    Gleich danach ist mir die Idee gekommen. Ich ging zur Kommode, zog die oberste Schublade auf und steckte die Hand unter den T-Shirt-Stapel. Dort ruhte der Schal, der sich unter meinen Fingern so zart anfühlte wie ein Streicheln. Ich zog ihn aus dem Versteck und band ihn mir um den Hals. Dann ließ ich ihn unter dem Rollkragen verschwinden. Es war nichts mehr zu sehen. Ich weiß nicht, ob es an den Farben lag, an der wohligen Wärme oder an der Tatsache, dass Monsieur Kauffmann ihn einst getragen hatte, jedenfalls war ich plötzlich heiter gestimmt und lächelte den Spiegel an.
    »Herrlich!«, rief er. »Ich hätte es nicht besser machen können.«
    Der Shuttle setzte mich um 8 . 34 Uhr am Fuß von Turm A ab. Ich machte mich gleich auf den Weg, mit gesenktem Kopf – ich wollte es zügig hinter mich bringen, ohne zu viel nachzudenken. Nachdem ich die Sicherheitsschleuse passiert, meinen Ausweis vorgelegt und die Eingangshalle im Eilschritt durchquert hatte – den Blick der jungen Frau am Empfang bewusst meidend –, schlüpfte ich schnell in den Aufzug.
    Das Stockwerk war noch menschenleer. Ich flitzte in meine Sackgasse und sperrte mich in meiner Zelle ein. Dort setzte ich mich mit dem Rücken zur Glasfront neben den Scanner und wartete. Wenn man niemanden sehen will, muss man gewisse Maßnahmen ergreifen.
    Schlag neun Uhr ging die Tür krachend auf. Ich sprang schreiend vom Stuhl.
    »Oh, tut mir leid, Mamiselle, ich wollte Ihnen keine Angst einjagen!«
    Dieser erste Anblick hat sich wohl für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Eine furchterregend brutale Visage. So viele Narben. Der Mann stand ziemlich kleinlaut hinter einer großen Botenkarre, die mit hermetisch versiegelten Papierbündeln beladen war. Seine Wangen waren mit Schmissen übersät, seine Lippen völlig zerbissen. Seine Augenlider wiesen ebenfalls Narben auf, und er blinzelte unaufhörlich, von nervösen Zuckungen befallen.
    »Entschuldigen Sie bitte, Mamiselle. Geht’s wieder?«
    Vor Schreck brachte ich kein Wort heraus.
    »So sagen Sie doch was. Bitte …«
    Ich stammelte schließlich:
    »Sind Sie … sind Sie der Lagerist?«
    Da lächelte er, und das machte das Ganze nur noch schlimmer.
    »Der bin ich, Mamiselle.«
    Ich nahm all meine Kräfte zusammen.
    »Justinien, nicht wahr?«
    Er nickte heftig.
    »Sie können mich aber gern Scarface nennen. Das tun hier alle, wegen meiner Narben.«
    »Nein, mir gefällt Justinien besser.«
    »Wie Sie wollen, Mamiselle.«
    Unterdessen war er ganz behutsam bis zur Türschwelle zurückgewichen, als befürchtete er, mich wieder zu Tode zu erschrecken, wenn er auch nur einen Schritt näher trat. Es schien ihm so unendlich leidzutun, dass ich mir auf einmal albern vorkam. Obwohl es mich enorme Überwindung kostete, ging ich ihm ein kleines Stückchen entgegen.
    »Verzeihen Sie, Justinien, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Ich heiße Lila K, und heute ist mein erster Arbeitstag in der Bibliothek.«
    Staunend riss er die Augen

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