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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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auf.
    »Hui, Sie sind aber verdammt schön. Ich habe noch nie so einen schönen Menschen gesehen!«
    »Oh … oh, wie nett, danke«, antwortete ich verlegen.
    Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Nun starrte er mich an wie eine Götzenstatue, vollends fasziniert.
    »Sie sind ja so schön!«
    Mir lief ein Schauder über den Nacken, während er mich weiterhin verzückt mit den Augen verschlang. Ab und zu strich er sich die Haare aus der blaufleckigen Stirn. Ich war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Plötzlich schien er aus seiner Trance zu erwachen:
    »Keine Sorge, Mamiselle. Sie erhalten von mir jetzt Ihr Tagespensum, und dann hör ich auf, Sie zu behelligen.«
    Er nahm eine Hülle vom Stapel und legte sie auf den Schreibtisch.
    »Das ist für Sie. Die Anweisungen liegen obenauf.«
    »Danke, Justinien.«
    »Da nicht für, Mamiselle. Es ist mir eine Freude, das können Sie mir glauben, jetzt, wo meine Augen Ihre Schönheit geschaut haben. Na, dann wünsche ich Ihnen einen guten Einstand. Bis morgen!«
    »Bis morgen, Justinien.«
    Ich hielt ihm die Tür auf. Er schob seine Karre in den Flur.
    »Und nochmals Entschuldigung, dass ich Sie so erschreckt habe«, sagte er und hob die Hand zum Gruß.
    Erst da sind mir seine krummen Finger und die Wunden an seinen Armen aufgefallen.
    Von Monsieur Kauffmann hatte ich ständig gehört, ich könne sämtliche Herausforderungen bewältigen, weil ich so zäh und beherzt sei. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber tatsächlich entpuppte ich mich als weitaus belastbarer, als ich angenommen hatte. Binnen weniger Wochen hatte ich mich eingelebt. Trotz der ungeheuren Anstrengung, trotz meiner Ängste hielt ich durch. Vielleicht war es ja gerade die Große Bibliothek, in der ich mich tagtäglich aufhielt, die mir die nötige Kraft spendete. Die vielen Bücher um mich herum, auf allen Stockwerken und im tiefen Keller, die vielen Zeichen, die sich verbanden, zu Wörtern, zu ganzen Sätzen, und jene Wahrheit in sich bargen – oder zumindest einen Teil –, die mich zu meiner Mutter führen würde.
    Ich traf jeden Morgen in aller Frühe ein, um niemandem zu begegnen. Das Stockwerk war noch nicht beleuchtet. Den Weg in meinen Verschlag am anderen Ende des Flurs wiesen mir die Nachtlichter, die entlang der Sockelleisten blinkten.
    Beim Vorbeigehen warf ich stets einen Blick in das große verglaste Büro. Die Porträts schienen mich im Dämmerlicht ungerührt zu fixieren. Jedes Mal wurde mir bei ihrem Anblick warm ums Herz, zugleich verspürte ich eine unerklärliche Traurigkeit.
    Um neun kreuzte Justinien auf und veranstaltete mit seiner vermaleideten Botenkarre einen Höllenlärm. Inzwischen war ich zur Besinnung gekommen und fuhr nicht mehr zusammen. Er überreichte mir jeweils die Papiervorlagen, die ich im Lauf des Tages digitalisieren sollte, und nahm die bereits bearbeiteten Dokumente vom Vortag aus dem Schrank, um sie im Anschluss an seine Runde wieder ins Magazin hinunterzufahren.
    Er war längst nicht mehr so aufgeregt wie bei unserem ersten Zusammentreffen; er wiederholte auch nicht mehr alle naselang Sie sind ja so schön , sondern begnügte sich damit, mich anzustarren, bis ihm die Augen aus dem Kopf fielen. Ich hatte mich ebenfalls beruhigt. Mit der Zeit hatte ich mich an seine immer neuen Wunden, Beulen und blauen Flecken gewöhnt. Sie waren unvermeidlich, wie ich nun wusste: Justinien hatte kein Schmerzempfinden. Manchmal verletzte er sich sogar an der Hornhaut seines Auges, nachts, wenn er träumte.
    Wir plauderten immer einen Moment, bevor er seine Runde fortsetzte. Ich versuchte alles, um ihm ein paar Informationen über die Bibliotheksorganisation zu entlocken. Obwohl Justinien nur ein kleines Rädchen in diesem gewaltigen und komplexen Getriebe war, kannte er sich mit den Strukturen bestens aus und gab mir, ohne es zu merken, wertvolle Hinweise.
    Das war aber nicht der einzige Grund, warum ich mir die Mühe machte, ihn so freundlich zu behandeln. Ich mochte ihn wirklich, glauben Sie mir. Er war so lieb und auf seine Weise auch intelligent. Unsere morgendlichen Gespräche waren mir ein Trost, den ich ungeduldig herbeisehnte – sie waren das Einzige, was meine Einsamkeit durchbrach. Die anderen Mitarbeiter flößten mir Angst ein. Ich ging ihnen so gut wie möglich aus dem Weg. Justinien teilte meine Vorbehalte.
    »Zu mir sind sie gar nicht nett, wenn Monsieur Templeton weg ist. Sie hänseln mich. Manchmal klemmen sie mir die Finger in der Tür ein, nur so zum Spaß.

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