Die Ballade der Lila K
Runde in meinem Viertel. So schwer mir das fiel, ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Sie würden mir nie gestatten weiterzumachen, wenn ich jedes Mal vor Angst schlotterte, bevor ich einen Fuß vor die Tür setzte. Und schließlich war da noch meine Mutter. Ich musste sie unbedingt ausfindig machen, egal, wo sie war. Das motivierte mich noch stärker als die Furcht, wieder ins Zentralheim gesteckt zu werden.
Anfänglich begnügte ich mich mit einem Gang um meinen Häuserblock, mit zusammengebissenen Zähnen und der Sonnenbrille auf der Nase. Es war nicht leicht: Ich konnte mich noch so sehr anstrengen, die Welt um mich herum zu vergessen, die Menschenmenge holte mich doch immer ein. Plötzlich verdichtete sie sich, und ich geriet in Panik. Blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen, schloss die Augen, hielt die Luft an und umklammerte das Fläschchen mit den Anxiolytika, das ich stets in der Tasche bei mir führte. Das reichte in der Regel aus, um mich zu beruhigen. Nach einer Weile kam ich wieder zu mir und ging mit schnellen Schritten inmitten der Passanten weiter. Ein paarmal wurde mir schlecht, aber dafür hatte ich vorgesorgt: Ich übergab mich diskret in eine Papiertüte, ohne dass es groß aufgefallen wäre.
In meiner Wohnung war ich besonders wachsam. Den Wandschrank öffnete ich so selten wie möglich, um ja nicht in Versuchung zu geraten. Ich ließ keine Mahlzeit aus und aß langsam, ohne jemals eine Spur von Ekel zu zeigen. Jeden Abend fütterte ich Pascha, Häppchen für Häppchen. Jeden Abend verlangte er ein bisschen mehr. Manchmal hätte ich mir am liebsten klammheimlich die Finger abgeschleckt, aber ich blieb standhaft. Ich wollte in Sachen Ernährung nicht das geringste Risiko eingehen. Ich wusste, dass sie mich überwachten.
Die ersten beiden Monate überstand ich, ohne einen einzigen Fauxpas zu begehen. Die Kontrollkommission stellte mir ein höchst positives Zeugnis aus. Setzen Sie Ihre Bemühungen fort. Sie sind auf einem guten Weg. Damit hatten sie den Nagel auf den Kopf getroffen.
Pascha kam allmählich wieder zu Kräften. Inzwischen vertilgte er jeden Abend eine halbe Dose, während ihm ein goldbrauner Flaum wuchs, so leicht und zart wie Seidensamt. Es war schön zu sehen, wie er erneut Farbe annahm. Und ich wartete seelenruhig den richtigen Moment ab.
Unterdessen wusste ich auch ein bisschen mehr über Justinien. Er lebte allein in einem Wohnheim unweit der Bibliothek. Schon früh hatte er seine Eltern verloren, an die er sich nicht im Geringsten erinnerte, wie er freimütig bekannte. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, mir oft von ihnen zu erzählen, wie von Helden aus ferner Zeit, die jäh verschwunden waren. Die Todesursache konnte ich allerdings nicht in Erfahrung bringen – dazu gab es von Justinien nur vage und widersprüchliche Aussagen: An einem Tag war es ein Flugzeugabsturz, am nächsten eine Feuersbrunst oder eine Entführung durch Zonen-Terroristen. Mir wurde ziemlich schnell klar, dass er sich das alles zusammenfabulierte. Das hat mich nicht gestört. Ich hatte selbst zu viele Geheimnisse, um daran Anstoß zu nehmen.
Eines Tages, als ich allein auf der Esplanade zu Mittag aß, kam er auf mich zu.
»Kann ich mich ein Weilchen zu Ihnen setzen?«
Ich wollte auf keinen Fall, dass man uns zusammen sah, das würde unter Umständen Aufmerksamkeit erregen und meinen Plänen abträglich sein. Aber wie hätte ich es ihm abschlagen können? Und so sagte ich:
»Aber … aber ja.«
Und er setzte sich gleich freudestrahlend hin.
»Wie schön, Sie zu sehen. Ich hätte nicht damit gerechnet, Sie hier zu finden.«
»In der Mittagspause komme ich oft hierher. Es ist aber das erste Mal, dass ich Sie hier treffe.«
»Normalerweise lege ich mittags keine Pause ein, weil es im Magazin so viel zu tun gibt. Ich komme abends hierher.«
»Jeden Abend?«
»Ja. Ich mag diesen Ort.«
Er zeigte auf das Memorial.
»Da sind meine Eltern.«
Verblüfft warf ich einen Blick auf die Säule. Hunderte von Namen prangten in goldenen Lettern auf dem schwarzen Granit.
»Wollen Sie sagen, dass die Namen Ihrer Eltern dort aufgeführt sind, Justinien?«
Er nickte.
»Da fällt mir ein, Justinien, dass ich Sie nie gefragt habe, wie Ihre Eltern hießen …«
»Das weiß ich nicht. Ich habe ihre Namen vergessen, wegen meiner Amnesie. Ich weiß aber, dass ihre Namen auf diesem Stein stehen.«
Mir fiel wieder ein, was er mir über den Tod seiner Eltern erzählt hatte: den Absturz, den Brand, die
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