Die Ballade der Lila K
Entführung durch die Terroristen. Im Grunde genommen war das gar nicht so abwegig: Bei der Zerstörung des vierten Turmes hatte sich all dies gleichzeitig abgespielt.
Ich sah ihn prüfend an, während er die Säule betrachtete. Sein Blick glitt über die Liste der Namen, die auf diese Entfernung nicht zu lesen waren. Er wirkte völlig gelassen. Ich hielt den Augenblick für gekommen.
»Bei mir ist es nicht anders, Justinien. Ich weiß auch nicht, wie meine Eltern heißen.«
»Das ist ganz schön traurig.«
»Ja, sehr traurig.«
Plötzlich leuchteten seine Augen auf.
»Aber das heißt, Sie und ich haben eine Gemeinsamkeit!«
»Das kann man wohl sagen, Justinien.«
»Das gefällt mir. Gemeinsamkeiten sorgen für Annäherung, und in diesen Zeiten kommt so was eher selten vor. Sie wissen gar nicht, wie mich das freut!«
»Mich auch, Justinien. Mich auch.«
Unterdessen waren drei Monate vergangen, seit ich das Zentralheim verlassen hatte. Ich wusste, dass man mich von nun an weniger streng überwachen würde. Fernand hatte so etwas angedeutet. Die Kontrollkommission konzentrierte sich auf die schwierigen Fälle, die Risikokandidaten , die Rebellen, während sie bei den anderen, die sich brav verhielten, die Zügel etwas schleifenließ. Ein braves Mädchen, das war ich in der Tat – zumindest war es mir gelungen, diesen Anschein seit meiner Entlassung aufrechtzuerhalten. Das Zeugnis, das mir am Ende des dritten Monats ausgestellt wurde, war noch lobender als die beiden davor: Eine bemerkenswerte Anpassungsleistung. Fortschritte in allen Bereichen. Weiter so! Das wollte ich mir nicht zweimal sagen lassen.
Kurze Zeit später ging ich während meiner Mittagspause in den Lesesaal und gab vor, einige Artikel zu lesen. Sie waren nicht weiter von Belang, sondern dienten mir lediglich als Vorwand, sollte ich nach dem Grund meines Aufenthalts gefragt werden. Danach habe ich mich ins Programm eingeloggt. Ich wusste ganz genau, wie ich vorgehen musste.
Zwar hatte ich in meiner Akte weder den Namen noch das Gesicht meiner Mutter entdeckt, aber immerhin erfuhr ich bei der Lektüre, was man ihr zur Last gelegt und wann man sie verhaftet hatte. Das waren genügend Anhaltspunkte, um ihre Spur wiederzufinden.
Erst gab ich die zeitlichen Daten in die Suchmaschine ein: 16 . und 17 . November 2095 – der Tag meiner Aufnahme im Zentralheim sowie der Tag danach. Als Nächstes die geographischen Daten: Extra Muros -Bezirk. Und schließlich die Stichworte: Mutter, Kind, Misshandlung, Martyrium . Das hat mir weh getan, wie Sie sich vorstellen können – als gäbe ich ihr nun ebenfalls die Schuld an allem, was ich ihretwegen hatte erleiden müssen. Offiziell hatte man sie jedoch für schuldig befunden, und so musste ich mich daran halten.
Trotzdem blieben die Suchkriterien schwammig, dessen war ich mir durchaus bewusst. Die Zone ist ein riesiger Bezirk mit unzähligen Gewalttaten. Selbst wenn ich meine Suche auf nur zwei Tage beschränkte, lief ich Gefahr, auf weitere ähnlich gelagerte Fälle zu stoßen, was meine Recherchen beträchtlich erschweren würde. Nach kurzer Überlegung gab ich ein weiteres Stichwort ein: Wandschrank . Dann hielt ich die Luft an und startete die Suche.
Sogleich wurden die Treffer am Bildschirm aufgelistet – insgesamt 36 Belege –, mit dem Hinweis, dass diese Artikel noch nicht digitalisiert waren. Vermutlich waren sie noch zu neu oder vielleicht auch zu heikel. Die wenigsten Texte, die sich auf die Zone beziehen, sind frei zugänglich. Etwaige Anfragen richten Sie bitte an die Lektürekommission, die sie binnen kürzester Frist prüfen wird (hierzu laden Sie das entsprechende Formular herunter, füllen es vollständig aus und senden es uns samt Motivationsschreiben zu) . Darunter waren die Gebühren aufgelistet. Bei steigender Stückzahl der angeforderten Artikel verringerten sie sich automatisch.
Damit hatte ich gerechnet. Von Anfang an hatte ich den Boden für mein Vorhaben bereitet und war recht zuversichtlich, dass es glücken würde. Mir wurde schwindlig – wegen des Sauerstoffmangels –, und die Linien auf dem Bildschirm wellten sich leicht, aber ich wollte erst wieder Luft holen, wenn ich mit allem fertig war. Ich speicherte sämtliche Quellenangaben auf einer Lamellette ab, was kaum eine Sekunde in Anspruch nahm. Dann loggte ich mich aus. Es war vollbracht. So viele Jahre hatte ich darauf gewartet, und nun war die Antwort binnen Sekunden zum Greifen nah. Sie steckte in meiner Faust,
Weitere Kostenlose Bücher