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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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hieß drei Tage voller Tests und Prüfungsgespräche, um den Erfolg meiner Resozialisierung in sämtlichen Bereichen einzuschätzen. Ich habe alles mit Bravour gemeistert – Fernand hatte mich die Kunst der Täuschung wirklich gelehrt. Ich gab zu Protokoll: Es läuft gut, die Arbeit gefällt mir, meine Wohnung ist sehr komfortabel. Es fällt mir noch schwer, auf andere zuzugehen, aber ich merke, dass es langsam, aber sicher besser wird. Kurzum, ich habe mich den Vorgaben voll und ganz angepasst und mich bemüht, in keinem Punkt von ihnen abzuweichen oder sie zu übertreffen. Damit hinterließ ich einen hervorragenden Eindruck. Überaus positiver Prozessverlauf notierten sie in meiner Akte. Ich war erschöpft, aber zufrieden. Hätte ich geahnt, was sich daraus noch ergeben würde, wäre ich noch zufriedener gewesen.
    Ich hatte Justinien im Vorfeld nicht gesagt, dass ich ein paar Tage fehlen würde. Ich hatte keine Lust, ihm von meiner Probezeit oder den sozialpsychologischen Tests zu erzählen – wir haben alle unsere kleinen Geheimnisse, nicht wahr? Irgendeine Lüge würde mir schon einfallen, dachte ich, um ihm mein Fehlen nachträglich zu erklären.
    Als ich wieder arbeiten ging, begrüßte er mich wie eine Auferstandene.
    »Da bin ich aber froh, Mamiselle! Ich hatte schon Angst, ich seh Sie nie wieder. Die anderen haben mir gesagt, Sie sind tot.«
    Er weinte vor Freude, und ich konnte den Anblick der vielen Kratz- und Schnittwunden kaum ertragen, die er sich an Hals und Handrücken zugefügt hatte.
    »Die anderen haben Sie veräppelt, Justinien. Ich war nur … ich war nur ein bisschen krank.«
    »Krank! Aber warum?«
    »Ich … Keine Ahnung. So was kommt vor. Es war nicht weiter schlimm.«
    »Krank vor Kummer?«
    »Nein, Justinien. Damit hatte das nichts zu tun.«
    »Kummer kann einen richtig krank machen. Da kenn ich mich aus, aber echt.«
    »Justinien, ich versichere Ihnen, dass …«
    »Bestimmt wegen Ihrer Mutter, hab ich recht?«
    Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Er zog und zerrte an seinen Fingern, so stark, dass ich die Gelenke knacken hörte.
    »Justinien! Lassen Sie das!«
    Er war viel zu aufgeregt, um auf mich zu hören. Seine Gedanken rasten. Er zerrte weiter an seinen Fingern. Als ich sah, wie er sich dabei ein Glied ausrenkte, rief ich:
    »Justinien!«
    Er sah mich flehentlich an.
    »Mir können Sie’s ruhig sagen, dass es wegen Ihrer Mutter ist. Und selbst wenn Sie nichts sagen: Ich kenne die menschliche Natur.«
    Ich hatte sein Gesicht nun ganz dicht vor Augen, seine Narben in Großaufnahme, den Rotz an seiner Nase. Vor Ekel schloss ich die Augen.
    »Der Kummer hat Sie krank gemacht, weil Sie nicht wissen, was mit Ihrer Mutter ist. Ich weiß es ganz genau.«
    Seiner kläglichen Stimme war anzuhören, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Er stand kurz davor nachzugeben, das spürte ich. Ich behielt die Augen fest geschlossen, um mich zu konzentrieren. Manche Gelegenheiten muss man einfach beim Schopf ergreifen. Gerade wenn man am wenigsten damit rechnet. Die Lamellette lag nach wie vor in meiner Schreibtischschublade. Ich hörte ihn ein zweites Mal sagen:
    »Ich weiß es ganz genau …«
    Langsam neigte ich den Kopf und wisperte, als wollte ich nun endlich beichten:
    »Wie haben Sie das nur erraten, Justinien?«
    Und so habe ich mein Ziel erreicht: indem ich Justiniens Gewissensbisse bis zu einem unerträglichen Maß steigerte, sodass er lieber seine Angst überwinden und das Verbotene wagen wollte, als sich weiter damit herumzuquälen. Ich weiß, was Sie denken – dass ich ihn benutzt habe. Sagen wir lieber, dass ich aus einem Missverständnis Nutzen gezogen habe, das keineswegs bewusst herbeigeführt war. Ich schäme mich ein wenig, das zuzugeben. Aber nur ein wenig. Offen gestanden, schien es damals keinen anderen Ausweg zu geben.
    Als ich am nächsten Morgen die Schreibtischschublade aufzog, war die Lamellette verschwunden. Nun musste ich nur noch warten.
    Es dauerte nicht lange. Ein paar Tage später flüsterte Justinien mir bei der Übergabe zu:
    »Für Sie ist auch was dabei, ganz unten im Stapel. Was ganz Besonderes … Verstehen Sie?«
    Ich nickte sacht. Sosehr ich darauf gehofft hatte, konnte ich es noch nicht recht fassen.
    »Besser, Sie sagen nichts.«
    Ich hauchte nur:
    »Danke.«
    Die Stimme versagte mir.
    Er lächelte.
    »Ich will Sie doch nur glücklich sehen.«
    Als ich den Stapel mit Handschuhen hochhob, um einen Blick auf das letzte Dokument zu werfen,

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