Die Ballade der Lila K
betonte, wie nett ich zu ihm war, wie überaus freundlich und so weiter. Ich wollte keinen Verdacht erregen.
Ich hätte mich wohl nicht so schnell getraut, Justinien erneut auf das Herausschmuggeln von Papierdokumenten aus dem Magazin anzusprechen, wenn er mir nicht selbst einen Anlass geliefert hätte.
Wir aßen gemeinsam auf der Esplanade zu Mittag, wie immer, wenn er eine Pause machen konnte – was zum Glück recht selten der Fall war. Der Winter neigte sich dem Ende zu, aber das Mittagslicht ähnelte immer noch einer Abenddämmerung. Wenigstens war es nicht kalt. Und da fragte er mich aus heiterem Himmel:
»Wie war Ihre Mutter denn so?«
»Das weiß ich nicht, Justinien.«
»Wie kann das sein?«
»Ich habe alles vergessen.«
»So wie ich bei meinen Eltern?«
»So ähnlich. Mit dem Unterschied, dass die Namen Ihrer Eltern dort eingraviert sind, auf dieser Säule, und Sie nicht in der Lage sind, die Namen wiederzuerkennen. Während ich den Namen meiner Mutter vermutlich wiedererkennen würde, wenn ich nur die Artikel lesen könnte, in denen über sie berichtet wird.«
»Der Name Ihrer Mama stand in der Zeitung?«
»Ja, Justinien. Sogar in mehreren.«
Ich steckte die Hand in die Manteltasche, um die Lamellette hervorzuholen. Ich hatte sie stets bei mir.
»Hierauf sind alle Quellenangaben gespeichert.«
Er riss die Augen auf.
»Warum lesen Sie dann nicht einfach diese Artikel?«
»Weil sie noch nicht digitalisiert wurden und damit unzugänglich sind.«
Er wand sich unbehaglich hin und her.
»Sie könnten doch einen Antrag bei der Lektürekommission einreichen.«
»Ich weiß, Justinien. Das dauert mir aber zu lange, außerdem lege ich – unter uns gesagt – keinen Wert darauf, dass die Kommission von meinen Recherchen erfährt.«
Nachdenklich wiegte er den Kopf.
»Verstehe. Wir haben alle unsere kleinen Geheimnisse, nicht wahr? Das Leben steckt voller Rätsel.«
Nach einer Weile sagte er ganz leise zu mir:
»Ich hab schon kapiert, was Sie von mir wollen. Ich bin doch nicht blöd.«
Ich wandte mich ab, unfähig, seinem Blick standzuhalten.
»Ich erwarte nichts von Ihnen, Justinien.«
»Ich würd Ihnen ja gern helfen, glauben Sie mir, aber es geht einfach nicht.«
Es hat keinen Sinn, dachte ich und kam mir plötzlich so dumm vor, weil ich geglaubt hatte, er würde bloß um meiner schönen Augen willen seine Existenz aufs Spiel setzen. Mechanisch zog ich meine Sonnenbrille aus der Tasche.
»Sind Sie mir jetzt böse, weil ich Ihnen nicht helfe?«
»Ich erwarte nichts von Ihnen«, wiederholte ich, bemüht, meine Stimme nicht zittern zu lassen.
»Mag ja sein, aber …«
»Sie halten sich an die Vorschriften, Justinien, wie es sich gehört. Wer könnte Ihnen das verübeln?«
»Und wie wollen Sie es jetzt anstellen, wegen Ihrer Mutter?«
»Da kann ich wohl nichts mehr machen«, sagte ich bitter.
Wieder fing er an, sich manisch an den Armen zu kratzen, wie immer, wenn er zutiefst aufgewühlt war. Diesmal versuchte ich nicht, ihn davon abzuhalten. Ich richtete lediglich den Blick auf die Lamellette in meiner Hand.
»Ich stecke sie einfach in meine Schreibtischschublade, und dann vergessen wir das Ganze.«
»Schreibtischschublade«, murmelte er, als wollte er sich das unbedingt einprägen.
Vielleicht besteht doch noch Hoffnung, dachte ich.
Die Wochen zogen ins Land, ohne dass irgendetwas passierte. Jeden Morgen sah ich in der Schreibtischschublade nach, ob die Lamellette noch an ihrem Platz lag. Und das tat sie. Aber ich ließ mich nicht entmutigen. Das konnte ich mir nicht leisten.
An den Wochenenden ging ich auf dem Grünzug joggen, der anstelle der ehemaligen Ringautobahn entstanden war. Das fiel mir anfangs sehr schwer. Ich vermisste die stickige Atmosphäre des Ringodroms – mit frischer Luft konnte ich nach wie vor nichts anfangen. Die Spaziergänger und anderen Jogger verstörten mich so sehr, dass ich die ersten Male schon an der Porte Dauphine kehrtmachte. Das ist doch nicht schlimm , munterte Fernand mich auf. Versuch es einfach weiter. Mit der Zeit gewöhnst du dich daran. Erneut behielt er recht: Bald gelang es mir auch dort, die Welt um mich herum zu vergessen, und ich rannte wieder so schnell wie früher auf dem Ringodrom. Ich sagte mir: Du rennst deiner Mutter entgegen. Denk immer daran: Ihr rennst du entgegen. Noch handelte es sich bloß um eine Metapher, doch eines Tages würde es wahr werden.
Anfang Mai wurde ich zur Evaluierung des ersten Semesters vorgeladen: Das
Weitere Kostenlose Bücher