Die Ballade der Lila K
wieder zu. Da war ich nun endlich. In der Geborgenheit meines Wandschranks, so dunkel und abgeschlossen, wie ich es mir erträumt hatte. Hier drinnen roch es gut, und ich fühlte mich pudelwohl. Ich machte die Dose auf. Tauchte die Hand hinein und stopfte mir gewaltige Bissen in den Mund, schleckte mir die Handflächen ab, lutschte an meinen Fingern. Das brauchte ich jetzt, den Mund voller Pastete, Tränenpastete, mit Rotz und Wasser gespickt, mit Freude gefüllt, mit Schrecken auch, wie früher in meinem mollig warmen Kokon. Lila und Moïra, Moïra und Lila.
Im Laufe dieser Nacht begegnete mir meine Mutter zum ersten Mal wieder vollständig, anders als bisher, da ich höchstens ein verschwommenes Gesicht oder ein Lächeln heraufbeschworen hatte, zusammen mit den Worten: Komm, mein Schatz. Komm zu mir. Ich wurde mit entsetzlichen Bildern konfrontiert. Bitte fragen Sie nicht weiter. Ich will nicht darüber sprechen. Ich bin noch nicht so weit.
Wenn ich es Ihnen jetzt erzählte, könnten Sie es nicht verstehen. Sie würden genauso reagieren wie die anderen: Sie würden meine Mutter steinigen, sie fürchterlich schmähen, sie in Grund und Boden verdammen. Ich versichere Ihnen, das hat sie nicht verdient. Geben Sie mir noch ein wenig Zeit, dann werde ich Ihnen alles erzählen. Später, versprochen. Meine Erinnerungen und ihre Geschichte. Meine Erinnerungen zusammen mit ihrer Geschichte, anders ist das nicht zu erzählen und auch nicht zu verstehen.
Am nächsten Tag fragte mich Justinien:
»Und, sind Sie zufrieden?«
»Sehr zufrieden, Justinien. Ich danke Ihnen von Herzen.«
Er strahlte.
»Na, dann werden Sie die Dokumente von heute bestimmt auch interessieren!«
Unter dem Stapel befanden sich zwei weitere Artikel. Am folgenden Tag waren es drei. Wochenlang habe ich für nichts anderes gelebt als für diese paar Seiten, die er mir tagtäglich aus dem Magazin hochbrachte. Es galt, beim Lesen keine Miene zu verziehen. Alles auswendig zu lernen. Die Fotos zu betrachten. Und meiner Mutter endlich wieder ein Gesicht zu geben.
Die meisten Zeitungen druckten die Polizeifotos ab – von vorne, von der Seite und mit Kennziffer. Der Blick meiner Mutter ist leer, ihr Gesicht schwer gezeichnet. Auf der linken Wange klafft eine längliche rosa Schnittwunde. Der Engel meiner Erinnerung hat voll eins auf die Fresse bekommen. Die Flügel sind gestutzt, die strahlende Schönheit vernichtet. Es ist brutal, das zu sehen, es tut unsagbar weh.
An manchen Abenden hatte ich den Eindruck, so viele Schläge eingesteckt zu haben, dass ich ganz benommen war. Trotzdem verlangte es mich nach mehr; ich wollte immer mehr, weil das mein Leben war.
Nachts im Wandschrank kehrten die Erinnerungen in Schüben zurück. Manchmal fühlte es sich an wie eine gewaltige Woge, die einen ohne Vorwarnung überwältigt; da musste man den Kopf oben behalten. Ein paarmal schluckte ich sogar Tabletten, weil ich solche Angst hatte unterzugehen.
Zum Glück gab es auch selige Momente von Zärtlichkeit und Geborgenheit, wie in jener Nacht, als mir plötzlich das Schlaflied wieder einfiel, das sie mir oft am Abend vorgesungen hatte:
Summertime, and the livin’ is easy
Fish are jumpin’ and the cotton is high
Oh, your daddy’s rich, and your ma is good-
lookin’
So hush little baby,
Don’t you cry
Sie beugt sich über mich.
One of these mornings you’re gonna rise up
singing
Then you’ll spread your wings and you’ll take
to the sky
Sie lächelt mich an, ein liebevolles Lächeln, die Art Lächeln, die alles andere auslöscht.
But ’til that morning, there ain’t nothin’ can
harm you
With Daddy and Mammy standin’ by
Meine Mutter hatte eine wunderschöne Stimme, habe ich Ihnen das schon gesagt?
Nachdem ich sämtliche Artikel durchforstet hatte, kehrte ich in den Lesesaal zurück, um weitere Recherchen anzustellen. Diesmal steuerte ich mein Ziel direkt an: Ich gab Moï ra Steiner als Suchbegriff ein, und das Programm zeigte mir über 500 Treffer.
Anders als befürchtet, ließ sich Justinien leicht überreden. Da er bereits einige Wochen illegal gehandelt hatte, ohne dafür belangt zu werden, hatte er nicht die geringste Angst mehr. Er war überglücklich, weil er mir helfen konnte und vielleicht vor allem, weil er sich unentbehrlich gemacht hatte.
Nun brachte er mir täglich ein Dutzend Artikel. Ich las sie heimlich, was gar nicht so einfach war, denn ich musste ja auch mein Arbeitspensum bewältigen. Ich geriet oft in Verzug, den ich
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