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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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zitterte ich nicht. Dabei hätte ich dazu allen Grund gehabt. So viele Jahre des Wartens, so viel Hoffnung – um schließlich weiß Gott was zu entdecken. Den Fotos in meiner Akte nach musste ich mit dem Schlimmsten rechnen. Seit Monaten hatte ich mich dagegen gewappnet. Für meine Vergangenheit, die mir als eine Handvoll Dreck ins Gesicht geschleudert werden sollte. Ich habe nicht mal mit der Wimper gezuckt, als ich die Schlagzeile las: Skandal in der Zone: Das Kind aus dem Wandschrank.
    Der Artikel handelte von der Verhaftung meiner Mutter: 16 . November 2095 , 6 Uhr morgens. Eine junge Zonenbewohnerin, drogensüchtig, Prostituierte. Das Zimmer verwüstet. Überall leere Spirituosenflaschen, der Boden mit Kippen übersät. Schmutzstarrende Laken. Und ich, das zerschundene Kind, auf dem Bett ausgestreckt. Der Wandschrank voller Unrat, ein Haufen Plüschtiere, von Ungeziefer wimmelnd. Ich erspare Ihnen weitere Details.
    Die vier anderen Artikel stießen ins gleiche Horn: Sie zählten die gleichen Schrecken auf und kommentierten sie mit der gleichen wohlfeilen Empörung: Schande, unvorstellbar, wie kann man nur. Ein Artikel war mit einem Foto versehen: Meine Mutter beim Verlassen des Gebäudes, schwarzgekleidete Männer schleifen, schleppen sie fast zur Tür hinaus. Die Zwangsjacke bildet einen leuchtend weißen Fleck. Ihr Gesicht wird von zerzausten Haaren verdeckt. Sie ist barfuß.
    Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass mich das kaltgelassen hat. Egal, wie intensiv man sich vorbereitet, es trifft einen doch immer härter als gedacht. Ob man damit fertigwird, hängt von der Perspektive ab: Man kann das Glas als halb leer oder halb voll ansehen. Ich habe mich für das halbvolle Glas entschieden – es ging ums Prinzip und auch ums Überleben –, selbst wenn ich es bis zur Neige austrinken musste.
    Was immer sie über meine Mutter geschrieben hatten – Monster, Peinigerin, Rabenmutter  –, traf für mich nicht zu. Ich wusste es besser, hatte ihre Liebe, ihr Lächeln erlebt. Vor allem hatte ich nun dieses Geschenk vor Augen, inmitten der Abscheulichkeiten. Es löste bei mir eine solche Freude aus, dass ich darüber fast alles andere vergaß: Auf dem brüchigen, bereits vergilbten Papier stand ihr Name.
    Sie hieß Moïra Steiner. Moïra Steiner. Moïra Steiner. Moïra Steiner. Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Namen aufgesagt habe, zunächst in meiner dunklen Zelle, abends in meiner Wohnung und in den folgenden Tagen. Ich konnte nicht glauben, dass ich ihn endlich wiedergefunden hatte. Moïra Steiner: Der Name war perfekt, melodisch und geheimnisvoll, wie geschaffen für eine Heldin. Ständig sprach ich ihn mir vor. Ich wollte ihn in der Kehle spüren, auf der Zunge. Er sollte mir in den Ohren klingen, damit ich sicher sein konnte, dass es ihn auch wirklich gab. Moïra Steiner. Damit ich ihn nie wieder vergaß.
    Den ganzen Tag hielt ich durch und arbeitete fleißig. Ich durfte mich auf keinen Fall gehenlassen. Anschließend fuhr ich brav nach Hause. Pascha begrüßte mich stürmisch, und das tat mir gut. Ungeachtet meiner großen Freude war ich in einer schwierigen Lage.
    Beim Abendessen brachte ich keinen Bissen herunter. Ich verfütterte die Fleischbällchen klammheimlich an den Kater, genau wie den Reis und den Karamellpudding. Die Gemüsebeilage vergrub ich wie üblich in den Farnkästen. Danach blieb ich auf dem Balkon, um die Dämmerung abzuwarten.
    Als es richtig dunkel geworden war, ging ich wieder hinein. Ich machte kein Licht an. Nicht, weil ich mich verstecken wollte – ich wusste ja, dass die Kameras unabhängig von Tag oder Nacht funktionieren –, sondern weil ich es mir, seit ich allein lebte, angewöhnt hatte, nach Einbruch der Dunkelheit auf künstliches Licht zu verzichten. Ich mag die Dunkelheit: Sie hebt den Raum auf, lässt die Gegenstände verschwinden und besänftigt die Augen, reinigt sie von den Schlacken, die das Tageslicht hinterlässt.
    Ich begab mich in die Küche. Nahm die Dose vom Regal. Damit ging ich zum Wandschrank. Tippte blind den Code ein. Die Tür glitt geräuschlos auf. Der Boden war komplett frei geräumt – ich hatte stets darauf geachtet, ihn nicht vollzustellen. Ich legte mich hin, mit der Dose in der Hand. Natürlich wusste ich um das Risiko – eine Routineüberwachung ist schließlich zu jeder Tages- und Nachtzeit möglich –, aber diesmal konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich hatte mich schon zu lange dagegen gewehrt.
    Die Tür glitt langsam

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