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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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wieder wettmachte, indem ich meine Mittagspause verkürzte und jeden Morgen früher zur Arbeit erschien. Ich holte das Bündel aus dem Schrank, schaltete den Scanner ein und gab vor, die Arbeit vom Vortag noch einmal gründlich Korrektur zu lesen.
    Die Zeitungen haben in aller Ausführlichkeit über den Prozess meiner Mutter berichtet – er währte drei Tage und endete damit, dass man ihr die Elternrechte entzog und sie zu sechzehn Jahren Haft verurteilte, wegen Falschaussage, Kindesvorenthaltung, Kindeswohlgefährdung, Kindesmisshandlung, grausamer Gewalttätigkeit gegen Menschen, öffentlichen Anwerbens von Freiern und Drogenmissbrauch. Inhaftiert wurde sie im Zentralgefängnis von Chauvigny im 17 . Bezirk. Schon wieder die Zone.
    Dabei hatte ich monatelang versucht, sie mir aus dem Kopf zu schlagen, wie Fernand es mir geraten hatte. Ich wollte nie wieder daran denken. Sie sollte für mich höchstens eine abstrakte Vorstellung sein, eine düstere Utopie. Die Zone war ganz weit weg, sie hatte nichts mit meinem Leben zu tun, und ich würde nie wieder einen Fuß dorthin setzen. Das hatte ich mir so erfolgreich eingeredet, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen war, meine Mutter dort zu vermuten.
    Doch jetzt wusste ich eindeutig Bescheid: Zentralgefängnis von Chauvigny im 17 . Bezirk. Meine Mutter war in der Zone. Wenn ich zu ihr wollte, musste ich dorthin. Bei der bloßen Vorstellung bekam ich vor Angst Bauchkrämpfe, Schweißausbrüche. Aber ich dachte keine Sekunde daran, es nicht zu wagen. Nach allem, was ich auf mich genommen, was ich riskiert hatte, würde ich mich nicht geschlagen geben. Ich musste der Angst trotzen und um jeden Preis weitermachen.
    Mir blieb ein gutes Jahr, bevor ich für mündig erklärt wurde. Ein Jahr, um mich vorzubereiten. Es würde äußerst schwierig werden – noch schwieriger als gedacht, aber ich musste es versuchen. Ich war voller Zuversicht. Dabei hätte ich, wie ich nun weiß, ohne Sie nicht das Geringste unternehmen können.

Milo
    Eines Morgens, als ich meinen Arbeitsplatz wie gewohnt in aller Frühe erreichte, sah ich Licht durch die Jalousien des großen verglasten Büros dringen. Mir blieb die Luft weg, wie gelähmt blieb ich stehen, während hinter mir die Aufzugtüren sich langsam schlossen. Ist das nicht albern? So lange schon hatte ich darauf gewartet, dass dieses Büro zum Leben erwachte. Da hätte ich doch vor freudiger Spannung brennen müssen. Stattdessen verspürte ich eine Art Beklemmung, eine Sehnsucht nach dem alten Zustand: Das Büro leer und still, ohne Licht, jeder Gegenstand unverrückbar an seinem Platz – es sollte sich nur nichts verändern. Und dieser Name auf dem Türschild – Milo Templeton – sollte ein bloßer Name bleiben, ohne jegliche Verkörperung. Ja wirklich, am liebsten hätte ich die Uhr zurückgedreht. Ich hatte solche Angst, enttäuscht zu werden.
    Das ganze Stockwerk war in Dunkelheit getaucht, bis auf die Nachtlichter, die entlang der Sockelleisten blinkten, und jenen Lampenschein, der weiter hinten im Flur aus dem großen verglasten Büro fiel. Während ich wie ein Ölgötze dastand und die Sekunden zählte, bis der Sturm in meinem Innern sich gelegt hatte.
    Bei 547 dachte ich: Schluss jetzt, du kannst nicht ewig hier herumstehen, früher oder später musst du dich sowieso in deine Zelle begeben, also warum nicht gleich? Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, atmete tief ein und setzte mich in Bewegung, die Hand fest um das Fläschchen in meiner Jackentasche geschlossen – eine sehr hilfreiche Methode, als schluckte ich eine Tablette, doch ohne Nebenwirkungen.
    Auf Höhe der Glasfront habe ich mich ganz langsam, ganz leise herangepirscht. Ich konnte nicht anders, ich musste es sehen. Musste es wissen. Zu oft hatte ich vor diesem Büro gestanden, als es noch verlassen war, und vielleicht auch zu viel geträumt. Ich lugte durch die Jalousienschlitze hindurch. Und da habe ich Sie zum ersten Mal gesehen.
    Über Ihren Schreibtisch gebeugt, prüften Sie mit bekümmerter Miene alte vergilbte Zeitungen. Die Falten auf Ihrer Stirn – das war das Erste, was mir ins Auge fiel. Erstaunlich bei einem noch so jungen Mann – laut Kurzbiographie auf der Bibliothekshomepage waren Sie 35 . Ein Foto gab es dazu nicht, anders als Copland sind Sie zurückhaltend und wollen Ihr Konterfei nicht überall prangen sehen.
    Ich hatte nie versucht, mir ein Bild von Ihnen zu machen, physisch, meine ich. Dennoch hätte ich nie mit einem derart gezeichneten

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