Die Ballade der Lila K
unbemerkt, im Aufzug zu Boden gefallen, als ich meinen Pullover ausgezogen hatte. Oder vielleicht im Flur. Zum Glück war es noch früh, das Stockwerk so gut wie menschenleer. Wenn ich mich beeilte, würde ich den Schal finden, ohne dass mir jemand zuvorkam.
Ich rannte den Weg zurück. Bog links in den großen Flur ein, danach noch mal links, ich hatte richtige Bauchschmerzen. Dann hielt ich jäh inne: Sie standen auf der Schwelle Ihres Büros, mit meinem Schal in der Hand.
»Gehört der Ihnen?«
Vor lauter Schreck hätte ich fast verneint. Als ich mich wieder gefasst hatte, murmelte ich »ja«. Meine Stimme klang komisch, geradezu grotesk.
»Ein ausgesprochen schönes Stück. Sehr ausgefallen.«
»Das … das habe ich geschenkt bekommen.«
»Da hat sich der Schenker aber nicht lumpen lassen«, bemerkten Sie und gaben mir den Schal. Dann fügten Sie hinzu: »Seltsam, ich habe ihn hier gefunden, direkt vor meiner Tür.«
»Das ist … weil ich vorhin einen Blick in Ihr Büro geworfen habe, im Vorbeigehen. Als Sie noch weg waren, habe ich das immer gemacht, na ja, und …«
»Und es ist schwer, eine alte Gewohnheit aufzugeben, stimmt’s?«
Meine Knie wurden weich. Ich wusste weder ein noch aus.
»Ihr Büro gefällt mir sehr«, sagte ich schließlich.
Sie hoben eine Augenbraue, was Ihre Stirnfalten verstärkte.
»Wegen … wegen der Bücher«, erklärte ich, als müsste ich mich rechtfertigen.
»Die Bücher, natürlich. Ich habe Ihre Akte gelesen.«
Sie haben mich lange gemustert, ohne ein Wort. Dann sagten Sie aus heiterem Himmel:
»Wenn wir schon dabei sind: Ich habe gerade ein altes Exemplar aufgestöbert, ziemlich interessant. Hätten Sie vielleicht Lust, es sich anzusehen?«
»Danke, das ist wirklich sehr freundlich, aber … ich bin mit meiner Arbeit bereits mächtig in Verzug, bis neun muss ich unbedingt aufgeholt haben, und …«
»Es sind doch nur ein paar Minuten. Wenn Sie Bücher lieben …«
Ich habe Sie unschlüssig angesehen. Es war so verlockend. Außerdem wäre es eine grobe Unhöflichkeit gewesen, das Angebot abzulehnen. Also habe ich es angenommen, und Sie haben gelächelt.
Das Buch lag versiegelt auf dem Tisch. Langsam bin ich darauf zugegangen. Auf einmal war es wie früher, als Monsieur Kauffmann regelmäßig mit dem Rollcontainer bei mir auftauchte, die gespannte Erwartung beim Anblick des Titels – San Francisco Museum of Art, the Complete Collections –, die hektische Aufregung beim Öffnen der Schutzhülle, die freudige Erregung, sobald ich den Umschlag berührte. Ich setzte umgehend meine Sonnenbrille auf.
»Tun Ihnen die Augen weh?«
»Es ist wegen des Lichts …«
»Soll ich die Beleuchtung herunterdimmen?«
»Nein, bloß nicht, machen Sie sich meinetwegen keine Umstände. Es … es liegt an mir, ich vertrage keine Helligkeit. Es ist … eine Idiosynkrasie.«
» Idiosynkrasie. Ich verstehe.«
»Bitte, das ist nicht weiter schlimm. Dafür habe ich ja meine Brille.«
»Na gut. Hier, nehmen Sie«, sagten Sie und legten mir ein Paar Handschuhe hin. »Sehen Sie sich dieses Prachtwerk an.«
»Stört es Sie, wenn ich es mit bloßen Händen anfasse?«
Sie haben unmerklich gelächelt.
»Nein, überhaupt nicht.«
Ich begann zu blättern. Allein das bewegte mich zutiefst, ebenso sehr wie die Qualität der Abbildungen.
»Und, was sagen Sie dazu?«
»Ein herrliches Exemplar. Und eine seltsame Vorstellung, dass die meisten dieser Werke gar nicht mehr existieren.«
Sie nickten stumm. Ich blätterte weiter. Ich spürte, wie Sie mich dabei beobachteten, und das war mir ein wenig unangenehm. Zum Glück hatte ich meine Sonnenbrille. Ich gönnte mir noch ein paar Minuten, um das Buch ausgiebig zu bewundern, und klappte es dann schweren Herzens zu.
»Wirklich außergewöhnlich. Darf ich fragen, wo Sie es gefunden haben?«
»In der Zone, Mademoiselle, wie alle anderen Papierdokumente, die Sie hier sehen.«
»In der Zone! Die haben dort tatsächlich Bücher?«
»Es sind ja keine Wilden, auch wenn das manche gern behaupten. Und bei den Aufständen von ’ 91 sind nicht alle Bibliotheken in Rauch aufgegangen.«
»Heißt das, jenseits der Grenze wird noch auf Papier gelesen?«
»Ja, meistens. Von wenigen Einzelfällen abgesehen, wurde nichts digitalisiert. Und genau darum geht es bei meinen wichtigen Missionen , wie Monsieur Copland sagt: Ich nehme den Bestand auf und erstelle einen Stufenplan für die Digitalisierung.«
»So viele Papierbücher, und alle frei
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