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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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blättern dürfen, als hätte es die Porträts, Ihr höfliches Wohlwollen und alles andere nie gegeben. Ich habe jede Begegnung vermieden, um nicht mit Ihnen reden zu müssen. Wenn ich Ihre Schritte hörte, floh ich in die entgegengesetzte Richtung. Ich habe Sie jedes Mal ignoriert, wenn Sie mich bei der Arbeit beobachteten. Das hat aber nichts genützt. Offenbar musste es so kommen.
    Am 20 . März war es so weit, erinnern Sie sich? Natürlich. Justinien war gerade mit seinem strahlenden Morgenlächeln und seinem zerknitterten Blinzeln bei mir aufgetaucht und überreichte mir den Tagespacken.
    »Das Gewünschte ist auch wieder dabei!«
    Danach plauderten wir noch ein Weilchen. Er war glücklich, und ich fühlte mich wohl. Als Sie hereinkamen, fuhren wir beide zusammen.
    »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Verzeihen Sie bitte.«
    »Aber nein, keineswegs«, stammelte ich und drückte die Dokumente an mich, während Justinien zu zittern anfing.
    »Die Tür stand offen, daher dachte ich … Es tut mir wirklich leid, Sie gestört zu haben.«
    »Das macht doch nichts.«
    Als wollte er mich Lügen strafen, schlug Justinien mehrmals heftig mit der Hand gegen einen der Karrenpfosten.
    Sie griffen sogleich ein.
    »Lass das, Justinien. Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass du damit aufhörst, weißt du nicht mehr?«
    Justinien nickte und ließ vom Pfosten ab. Aber er zitterte nach wie vor.
    »Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Mademoiselle. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie heute Abend nach der Arbeit in meinem Büro vorbeischauen könnten. Es geht um den Evaluierungsbericht, der nach den ersten anderthalb Jahren fällig wird.«
    »Ach ja, der Bericht.«
    »Wie Sie wissen, bin ich gehalten, ein Mitarbeitergespräch mit Ihnen zu führen und ein Gutachten zu erstellen – eine reine Formalität, die aber erledigt werden muss. Passt es Ihnen um fünf?«
    »Ja, Monsieur«, antwortete ich verlegen. Ich warf einen Seitenblick auf Justinien.
    Er zeigte keine Regung. Er schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Ich dachte sogar, er hätte nichts gehört.
    »Gut, dann bis heute Abend«, sagten Sie lächelnd.
    »Bis heute Abend, Monsieur.«
    »Mach’s gut, Justinien«, riefen Sie ihm beim Hinausgehen zu.
    Er reagierte nicht.
    Zu meiner großen Überraschung suchte mich Justinien um kurz vor fünf wieder auf. Um diese Uhrzeit war er sonst längst wieder unten im Magazin, um die Lieferungen für den nächsten Tag vorzubereiten. Als er sah, dass ich meine Sachen zusammenpackte, fragte er enttäuscht:
    »Sie gehen schon?«
    »Sicher. Ich bin fertig mit meiner Arbeit.«
    »Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen gern etwas zeigen.«
    »Jetzt nicht. Ich bin ein bisschen in Eile.«
    »Sie sind doch fertig mit Ihrer Arbeit. Haben Sie eben selbst gesagt!«
    »Ja, aber ich habe gleich noch etwas zu erledigen. Ich muss los. Verschieben wir es auf morgen. Oder auf einen anderen Tag.«
    »Und warum habe Sie jetzt keine Zeit?«
    »Ich … ich habe einen Termin, wissen Sie das nicht? Heute Morgen hat Monsieur Templeton mich gebeten, nach der Arbeit bei ihm vorbeizuschauen.«
    Justinien wirkte darüber sowohl erstaunt als auch erbost, eine befremdliche Mischung. Er biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass seine Zähne einen flachen roten Halbmond hinterließen.
    »Passen Sie auf, Justinien, Sie tun sich wieder weh.«
    »Sie tun mir weh, weil Sie mich für blöd verkaufen! Warum wollen Sie es nicht mit mir versuchen?«
    »Justinien!«, rief ich bestürzt und trat einen Schritt zurück.
    »Ich war doch immer nett zu Ihnen. Warum wollen Sie mich nicht?«
    »Hören Sie auf, Justinien!«
    Aber er war nicht mehr zu bremsen. Er kam immer näher auf mich zu. Ich wich weiter und weiter zurück, bis ich gegen den Schrank stieß.
    »Bin ich Ihnen vielleicht nicht schön genug?«
    »Hören Sie damit auf, bitte!«
    Er machte einfach weiter.
    »Warum lieben Sie mich nicht so, wie ich Sie liebe? Warum?«
    Er presste sich an mich. Das Gefühl war unerträglich, genau wie das Blut, das von seiner zerbissenen Unterlippe auf sein Kinn troff. Als er versuchte, mich zu küssen, stieß ich ihn mit aller Kraft weg – er flößte mir so viel Angst ein, so viel Ekel, es ging einfach nicht anders. Er kippte nach hinten weg und riss im Fallen den Metallstuhl um. Ich weiß noch, mit welchem Krach der Stuhl auf den Boden polterte, ein grausamer, unheilvoller Krach.
    Als Justinien, noch ganz benommen, sich berappelt hatte, brüllte ich:
    »Verschwinden Sie!«
    Er trat einen

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