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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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wichtig.«
    Ich schloss die Augen hinter der dunklen Brille und hielt die Luft an.
    »Bitte«, wiederholten Sie.
    Ich wiegte den Kopf hin und her und hob die Hand zum Zeichen, dass Sie sich noch gedulden sollten. Zunächst musste ich es bis 120 schaffen. 120 , zwei läppische Minuten, um meinen letzten Mut zusammenzukratzen. Gern hätte ich einfach weitergezählt – bis 180 , 240 , 300 , wenn der Schwindel langsam einsetzt –, aber Ihr Blick lastete auf mir. Ich konnte mir nicht erlauben, Sie allzu lange warten zu lassen. Also habe ich tief Luft geholt und Ihrer Bitte entsprochen. Ich habe Ihnen alles erzählt: Justiniens Überraschungsbesuch, sein Wutanfall, sein Versuch, mich zu küssen, meine Abwehr, seine blutende Unterlippe, sein Flehen um Vergebung und meine Antwort darauf, die Beleidigung, Drecksmonster , und schließlich seine panische Flucht. Es war so grausam, so unendlich traurig, dass ich mich heute noch darüber wundere, wie ich es in Worte fassen konnte.
    Es dauerte eine Weile, bis Sie reagierten.
    »Das hat Justinien gewagt!«, murmelten Sie schließlich.
    Ihre Bestürzung war nicht zu übersehen.
    »Der Fall ist ernst, Mademoiselle. Sehr ernst. Warum haben Sie das nicht gemeldet?«
    »Ich weiß auch nicht. Es ging über meine Kräfte. Er … er war doch sonst so nett. Ich kann es immer noch nicht glauben.«
    Sie schüttelten traurig den Kopf.
    »Das ist alles meine Schuld. Ich habe darauf bestanden, ihn auch außerhalb des Magazins arbeiten zu lassen, obwohl alle dagegen waren. Ich hätte nie gedacht, dass er sich derart … Sie waren immer so freundlich zu ihm. Das hatte er noch nie erlebt. Das ist wohl auch der Grund, warum er … Das entschuldigt natürlich nicht sein Verhalten … Aber es erklärt …«
    Ihr Satz blieb in der Schwebe. Sie waren offenbar schon jenseits aller Traurigkeit. Ich sah Sie verwirrt an. Ich dachte an die Artikel in meinem Schrank und an die Katastrophe, die mir drohte.
    »Geben Sie sich keinen Illusionen hin. So freundlich war ich gar nicht«, sagte ich.
    »Was soll das heißen?«
    »Das werden Sie noch früh genug erfahren.«
    Mit diesen Worten stand ich auf, mit dem Gefühl, dass alles verloren war, dass mir nichts anderes übrigblieb, als dem nahenden Unglück ins Auge zu blicken. Sie haben keinen Versuch unternommen, mich zurückzuhalten. Sie haben mir nur nachdenklich und leicht argwöhnisch hinterhergeschaut. Erst als ich die Tür aufmachte, sagten Sie:
    »Auf Wiedersehen, Mademoiselle.«
    »Auf Wiedersehen, Monsieur.«
    Dann bin ich hinausgegangen. Der Flur war sonnendurchflutet. Wir schrieben den 21 . März. Der Frühling fing an.
    Ich wandte mich an Fernand. In solchen Situationen läuft er immer zu Hochform auf – wenn es mir schlechtgeht. Dann hat er das Gefühl, dass er sich richtig nützlich machen kann. Ich habe ihm von Justiniens Tod erzählt – nur von seinem Tod, mehr brauchte Fernand nicht zu erfahren, das reichte schon, um meinen Zustand zu erklären. Er ließ einen Arzt kommen, der mir eine Spritze gab. Sofort ließ der Schmerz nach. Der Arzt schrieb mich zwei Wochen krank. Doch ich wusste bereits, dass ich nicht mehr in die Bibliothek zurückkehren würde. Die Entdeckung der illegal entnommenen Dokumente in meinem Büroschrank würde nicht nur für gewaltigen Ärger sorgen. Möglicherweise würde man mich deswegen sogar einsperren.
    Ich hütete ein paar Tage das Bett, von Kummer und Ängsten geplagt. Fernand rief jeden Abend an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ich wimmelte ihn stets mit der Auskunft ab, es gehe mir recht gut.
    »Soll ich wirklich nicht vorbeikommen?«
    »Nein, Fernand, ich möchte lieber meine Ruhe haben, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
    In Wahrheit ging es mir alles andere als gut. Die Beruhigungsmittel halfen nicht mehr – kein Wunder angesichts der Katastrophe, die jeden Moment über mich hereinbrechen konnte.
    Aber die Tage gingen ins Land, ohne dass irgendetwas passierte: Weder wurde ich vorgeladen, noch wurde meine Wohnung von der Polizei gestürmt. Es gab nicht das kleinste Anzeichen einer Strafverfolgung. Als hätte niemand etwas bemerkt.
    Am Ende der ersten Woche erhielt ich ein Rundschreiben, das sich an alle Mitarbeiter der Bibliothek richtete. Die Ermittlungen in Justiniens Fall waren abgeschlossen: Unfalltod infolge eines Treppensturzes und damit einhergehenden Schädelbruchs, lautete das Ergebnis. Drei Zeilen, und die Angelegenheit war zu den Akten gelegt. Wen kümmerte schon, was Justinien

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