Die Ballade der Lila K
widerfahren war?
Als ich die Türklingel hörte, dachte ich, es wäre so weit: Man war mir auf die Schliche gekommen und holte mich ab. Mühsam schleppte ich mich zum Visiofon und wäre fast umgekippt, als ich auf dem Bildschirm Ihr Gesicht entdeckte. Die Wand gab mir Halt – man nimmt, was man kriegen kann.
»Guten Tag, Mademoiselle.«
Ich brachte kein Wort heraus.
»Wir müssen reden.«
Die Stunde der Wahrheit war gekommen. In gewisser Weise war ich erleichtert.
»Kommen Sie rauf, oberster Stock«, sagte ich und betätigte den Türöffner.
Dann hielt ich die Luft an.
Als Sie an meiner Wohnungstür klingelten, war ich bei 110 angelangt. Immerhin etwas, dachte ich und machte Ihnen auf.
»Bitte, kommen Sie herein.«
Präsentabel war ich wohl kaum, aber daran verschwendete ich keinen Gedanken; ich hatte andere Sorgen.
»Nehmen Sie doch Platz.« Ich deutete auf die Couch.
Sie ließen den Blick schweifen, verweilten kurz beim Silberfüller, der gut sichtbar auf der Kommode lag. Ich hatte mich nie getraut, ihn zu benutzen, aus Angst, Ärger zu bekommen, wenn ich die Amtssiegel des Papierpackens und des Tintenfläschchens aufbrach. Aber es war schön, ihn in Sichtweite zu haben. Schließlich fiel Ihr Blick auf Pascha, der neben dem Fenster auf einem Kissen schlief.
»Was für ein herrliches Tier! Ein Abessinier, nicht wahr?«
»Ja. Ein Regenbogen-Abessinier.«
»Die seltenste Art. Und die schönste. Welche Farbe kommt als nächste?«
»Das kann man nicht vorhersagen. Die Farben wechseln in beliebiger Reihenfolge.«
Sie schwiegen. Natürlich waren Sie nicht wegen meines Katers gekommen, und so wartete ich unruhig auf die Fortsetzung.
»Wie geht es Ihnen?«, fragten Sie schließlich.
»Schwer zu sagen.«
Seufzend schüttelten Sie den Kopf.
»Bestimmt fragen Sie sich, warum ich hier bin.«
»Ich kann es mir schon denken.«
»Vor ein paar Tagen erhielt ich einen Anruf aus Justiniens Wohnheim. Ich sollte sein Zimmer ausräumen. Er hatte ja keine Angehörigen, also habe ich ihm manchmal unter die Arme gegriffen, bei Behördengängen und Ähnlichem. Und als ich seine Sachen zusammenpackte, habe ich das hier gefunden.«
Sie haben einen Stoffumschlag aus Ihrer Manteltasche gezogen, und als Sie ihn aufmachten, schossen die Farben zwischen Ihren Fingern hervor wie Blüten: Es war der Schal von Monsieur Kauffmann.
»Ich wusste nicht, dass Sie Justinien den Schal geschenkt hatten, aber ich dachte, vielleicht möchten Sie ihn gern wiederhaben.«
»Ich habe ihm gar nichts geschenkt. Er … er hat ihn mir …«
»… gestohlen?«
Ich nickte stumm. Sie wirkten am Boden zerstört.
»Das bedaure ich zutiefst. Bitte, nehmen Sie den Schal wieder an sich.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich mag nicht.«
»Er hat Ihnen doch so viel bedeutet.«
»Das stimmt, aber ich kann ihn jetzt nicht zurücknehmen. Es geht einfach nicht.«
Ich betrachtete den Schal, die schillernden Farben und Muster. So schwer mir der Verzicht fiel, zweifelte ich keine Sekunde.
»Machen Sie damit, was Sie wollen. Sie können ihn wegwerfen oder verschenken.«
»Wenn Sie darauf bestehen …«, antworteten Sie betrübt.
Ich setzte meine Sonnenbrille auf.
»Tut mir leid, aber das Licht …«
»Ach ja, Ihre Idiosynkrasie. «
Daraufhin setzte wieder Stille ein. Sie betrachteten den großen Spiegel, hinter dem die Kamera surrte.
»Sie sehen schlecht aus.«
»Ich weiß.«
»Lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen. Das wird Ihnen guttun.«
Ich nickte: Unser Gespräch war offenkundig noch nicht beendet.
Ihrem eiligen Schritt nach zu schließen, wollten Sie das Viertel möglichst rasch hinter sich lassen. Ich folgte Ihnen, traute mich jedoch nicht, Sie nach dem Ziel zu fragen. Bald waren wir außerhalb meines gewohnten Umkreises, und ich spürte die Angst zurückkehren, mit jedem Schritt ein wenig mehr. Mir wurde langsam der Boden unter den Füßen entzogen. Sie liefen unermüdlich weiter, stumm und viel zu schnell. Ich konnte nicht mehr mithalten. Inzwischen schnürte mir die Angst vollends die Kehle zu. Als ich in meiner Tasche nach dem Fläschchen Beruhigungsmittel suchte, stellte ich fest, dass ich es vergessen hatte. Jäh blieb ich mitten auf dem Bürgersteig stehen.
»Was ist? Was haben Sie?«
»Nichts … Ich … ich brauche nur eine kleine Verschnaufpause.«
Ich hielt die Luft an und konzentrierte mich allein auf das Zählen. Bis 120 , das war das Minimum, um wieder zur Besinnung zu kommen. Als das geschafft war, habe ich
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