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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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Schritt auf mich zu.
    »Verschwinden Sie!«
    »Mamiselle, verzeihen Sie bitte! Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Bitte, verzeihen Sie mir!«, flehte er kläglich.
    Der Schock hatte ihn wieder Vernunft annehmen lassen, aber jetzt war ich diejenige, die sich taub stellte.
    »Verschwinden Sie!«
    »Bitte, Mamiselle, ich …«
    »Verschwinden Sie, hab ich gesagt! Sie Drecksmonster!«
    Glauben Sie mir, ich weiß selbst nicht, wie mir so etwas über die Lippen kommen konnte. Ich hatte wohl entsetzliche Angst, dass er es wieder versuchen würde. Und dazu dieses blutverschmierte Gesicht voller Narben. Es war mir einfach zu viel, er widerte mich zutiefst an. Sie Drecksmonster. Das war mir entschlüpft, wie man sich erbricht: Es war stärker als ich. Ihn hat es schwer getroffen. Er riss die Augen auf und zog eine seltsame Grimasse. Dann fing er an, wie Espenlaub zu zittern. Es war furchtbar, diesen ohnehin so geschundenen Körper in wilden Zuckungen zu erleben. Aber ich war viel zu verschreckt, um Mitleid zu empfinden.
    Zum Schluss hat er die Hände gefaltet. Vermutlich wollte er damit Vergebung heischen, aber die Situation war nicht zu retten. Jeder von uns hatte Schlimmes angerichtet. Was uns beiden die Sprache verschlug. Nach einem letzten gestammelten Bitte machte er auf dem Absatz kehrt und hastete über den Flur zum Notausgang.
    Als Justinien außer Sichtweite war, rannte ich zum Aufzug. Ich war so verstört, dass ich gar nicht mehr an unseren Termin dachte. Ich hätte ihn ohnehin nicht wahrnehmen können. Ich ließ mich vom Shuttle nach Hause bringen, schluckte fünf Beruhigungstabletten und versank im Dämmer.
    Als ich am nächsten Morgen in der Bibliothek ankam, war mir wegen der Medikamente noch schwummrig, und bei dem Gedanken daran, was ich alles in Angriff nehmen musste, sank mir der Mut. Ich hatte nicht einmal eine Ausrede parat, um Ihnen mein Fernbleiben vom Vortag zu erklären. Da sieht man, wie schlecht es mir ging.
    Im Flur begegnete mir die Blondine, die mich bei meinem ersten Besuch durch die Bibliothek geführt hatte. Sie wirkte sehr aufgeregt. Als sie sah, dass ich Ihr Büro ansteuerte, rief sie:
    »Lassen Sie es lieber sein. Monsieur Templeton hat gerade Besuch von der Polizei.«
    »Polizei?«
    »Haben Sie es nicht mitbekommen? Es geht um Scarface. Er ist tot.«
    »Wie bitte?«
    »Scarface ist tot. Nicht mehr am Leben, wenn Ihnen das besser gefällt.«
    »Das … das kann nicht sein!«
    »Fragen Sie doch den Chef der Putzkolonne. Der hat ihn nämlich gestern Abend gefunden, am Fuß der Nottreppe. Soll kein schöner Anblick gewesen sein … Also auch nicht anders als zu seinen Lebzeiten«, fügte sie kichernd hinzu.
    Auf dieses Bonmot schien das Miststück richtig stolz zu sein. Am liebsten hätte ich ihr eine Ohrfeige gegeben. Ich wandte mich ab und flüchtete in meine Zelle.
    Von meiner Trauer, meinen Schuldgefühlen, meinen Tränen werde ich Ihnen nichts erzählen. Lediglich von meinem Schock angesichts der Tatsache, dass die Dokumente im Schrank nun nicht mehr von Justinien abgeholt werden würden. Darunter befanden sich fünf Artikel, die er heimlich aus dem Magazin mitgenommen hatte.
    Nachdem die Polizei weg war, haben Sie gegen zehn Uhr einen Rundgang durch alle Zellen gemacht und den Arbeitstag in Anbetracht der Umstände für beendet erklärt. Die Mitarbeiter durften nach Hause fahren. Da ich ganz am Ende des Flurs saß, kam ich als Letzte an die Reihe. Sie öffneten die Tür und sagten lediglich kurz angebunden:
    »Mademoiselle, wir müssen reden. Kommen Sie bitte mit.«
    Ich bin Ihnen gefolgt, auch wenn ich nicht weiß, wie ich es überhaupt bis zu Ihrem Büro geschafft habe. Sie baten mich, Platz zu nehmen, und ließen dann die Fensterjalousien herunter.
    »Sie vertragen ja kein Licht, nicht wahr?«
    Ich bejahte mit erstickter Stimme, doch ohne die Sonnenbrille abzusetzen. Anschließend herrschte quälende Stille. Dann setzten Sie sich mir gegenüber.
    »Ich habe gestern auf Sie gewartet.«
    »Es … es ging mir nicht besonders gut.«
    »So etwas kann vorkommen. Aber Sie hätten mir wenigstens Bescheid geben können.«
    »Entschuldigen Sie bitte. Es tut mir sehr leid.«
    »Kann es sein, Mademoiselle, dass Ihr Fernbleiben in irgendeiner Weise mit Justiniens Tod zu tun hat?«
    Diese Hellsicht war so bedrohlich, dass mir flau wurde. Ich musste mich am Schreibtischrand festhalten, um nicht vom Stuhl zu kippen.
    »Bitte, Mademoiselle, erzählen Sie mir, was passiert ist. Es ist sehr

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