Die Ballade der Lila K
zugänglich! Ich hatte ja keine Ahnung, dass …«
»Das wird sich bald ändern. In vier bis fünf Jahren wird die Regierung die komplette Bevölkerung mit Grammabooks ausgestattet und sämtliche verbliebenen Bücher aus dem Verkehr gezogen haben. Zur Erhaltung der öffentlichen Gesundheit.«
»Sie scheinen da Ihre Zweifel zu haben.«
»Das würde ich mir nie erlauben, Mademoiselle. Das wäre auch nicht ratsam. Für mich geht es jetzt einzig und allein darum, den Digitalisierungsprozess in der Zone so schnell wie möglich anzustoßen, um die Schließung der Bibliotheken zu verhindern.«
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass unser Gespräch eine so ernste Wendung nehmen würde. Um eine Antwort verlegen, richtete ich den Blick auf die Porträts, die dem Schreibtisch gegenüber an der Wand hingen – ich hatte sie schon so oft betrachtet. Der vertraute und tröstliche Anblick half mir, die Fassung zu bewahren.
»Gefallen sie Ihnen?«
»Ja, sehr.«
»Sie ahnen nicht, wie sehr mich das freut, Mademoiselle. Meine Fotografien finden nur selten Anklang.«
»Haben Sie die Porträts aufgenommen?«
»Ja, Mademoiselle. Das sind alles Leute, die mir während meiner Dienstaufenthalte in der Zone begegnet sind.«
Schon wieder die Zone. Die Zone war allgegenwärtig. Sie deuteten auf das Bild einer restlos erschöpften Frau mit schwer gezeichnetem Gesicht und wild zerzausten Haaren.
»Sie hieß June Parkman, und sie war dreißig, als ich das Foto gemacht habe.«
»Dreißig! Sie sieht aus wie fünfzig.«
»Die Menschen altern schnell in der Zone, Mademoiselle. Viel schneller als hier.«
Ich dachte an das angeschlagene Gesicht meiner Mutter auf der Anklagebank. Sie war keine dreißig gewesen und hatte noch älter gewirkt als June Parkman. Für mich wurde es höchste Zeit zu gehen.
»Gut, dann will ich mal wieder … Danke, dass Sie mir das Buch gezeigt haben.«
»Ich bitte Sie, das war mir ein Vergnügen. Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen jedoch noch eines sagen: Danke, um Justiniens willen.«
»Danke? Aber … warum?«
»Justinien war es bisher kaum vergönnt, auf Menschen wie Sie zu stoßen. Menschen, die ihn trotz seiner Makel und Narben und Ticks zu schätzen wissen. Dafür gebührt Ihnen nun wirklich Dank.«
Ich senkte den Kopf, im Bewusstsein, das Kompliment wieder einmal nicht voll und ganz zu verdienen. Zugleich war ich erleichtert: Nun hatte ich die Gewissheit, dass Justinien Ihnen nichts von unserem kleinen Arrangement erzählt hatte.
Zurück in meinem Büro, holte ich die Dokumente aus dem Schrank, die Justinien mir am Vortag übergeben hatte, die offiziellen obenauf, die heimlich geborgten darunter. Dazu zählte auch ein Artikel über den Brand eines Einkaufszentrums im 14 . Bezirk im Zuge der Ereignisse . Ich las ihn mehrmals, während ich auf Justiniens Erscheinen um Schlag neun Uhr wartete.
Beim Eintreten machte er einen trübsinnigen Eindruck, was ihm noch schlechter zu Gesicht stand als anderen.
»Was ist los mit Ihnen, Justinien?«
»Das wüssten Sie wohl gern!«
»Was ist denn passiert?«
»Ich habe Sie vorhin gesehen, mit Monsieur Templeton …«
»Ach ja? Ich habe Sie gar nicht bemerkt.«
»Klar, Sie hatten auch was Besseres zu tun!«
»Ich verstehe Sie nicht, Justinien.«
»Hauptsache, ich verstehe mich … Sie waren ja mächtig gut drauf. Was haben Sie ihm denn geflüstert?«
»Aber … das geht Sie doch nichts an, Justinien!«
Er lachte höhnisch.
»Dachte ich’s mir doch. Da bin ich aber schwer enttäuscht. Von Ihnen hätte ich das nicht gedacht!«
»Was erlauben Sie sich eigentlich?«
»Neulich wollten Sie sich in der Mittagspause nicht mit mir auf dem Vorplatz treffen. Weil Sie angeblich keine Zeit hatten. Für Monsieur Templeton nehmen Sie sich aber die Zeit! Oh, ich weiß, wie der Hase läuft.«
»Justinien, ich kann es Ihnen erklären …«
Er wandte sich ab.
»Sparen Sie sich die Mühe. Ich weiß schon Bescheid. Ich bin doch nicht blöd.«
»Als ich heute Morgen hier ankam, habe ich meinen Schal im Flur verloren. Monsieur Templeton hat ihn aufgehoben und mich dann für eine kurze Unterhaltung in sein Büro gebeten. Wirklich kein Grund, sich derart aufzuregen!«
Er schwieg eine Weile, dann schniefte er:
»Schal? Was für ein Schal?«
»Dieser Schal«, sagte ich und zog ihn aus der Tasche meines Regenmantels.
»Der gehört Ihnen nicht. Den hab ich noch nie an Ihnen gesehen.«
»Weil ich ihn immer unter dem Pulli trage. Damit ihn keiner sieht.«
»Das
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