Die Ballade der Lila K
Pass in den Scanner. Der Automat lächelte.
»Heben Sie bitte den Kopf und halten Sie still.«
Der Automat sah mir in die Augen, um meine Iris zu scannen.
»Alles in Ordnung, Mademoiselle K. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise in die Zone.«
Ich nahm den Pass wieder an mich und bog in den Gang ein, der zum Südbahnhof führte. Die Leuchttafeln brauchte ich nicht, ich hatte sämtliche Abfahrtszeiten der Züge auswendig gelernt, die in den 17 . Bezirk fuhren, und wusste genau, wohin ich musste: Gleis 64 , Abfahrt 8 . 19 Uhr. Obwohl ich früh dran war, legte ich einen Schritt zu.
Der Waggon war fast leer. Außer mir gab es höchstens zehn Passagiere – das ist der Vorteil, wenn man antizyklisch reist. Ich erinnere mich nur an eine ältliche Frau in Begleitung eines kleinen Mädchens. Die anderen Fahrgäste beachtete ich nicht. Wahrscheinlich sehnte ich mich danach, allein unterwegs zu sein.
Während der ganzen Fahrt klebte ich am Fenster und betrachtete die Landschaft, die an mir vorbeizog: zunächst die Neubauviertel – nicht anders als intra muros –, dann die weniger neuen und schließlich die Ruinen mit den vielen Slums und unzähligen Menschen, die am Fuß der wenigen noch erhaltenen Gebäude im Schutt wühlten. Ab und zu ragte aus dieser endlosen Trümmerwüste eine moderne, streng bewachte Siedlung heraus, die vor lauter Glas und Metall derart funkelte, dass sie unwirklich erschien. Danach folgten wieder Slums und Trümmer, so weit das Auge reichte. Ich sagte mir unaufhörlich, da kommst du her, da kommst du her, erschüttert von so viel Hässlichkeit und Trostlosigkeit. Obwohl ich doch damit gerechnet hatte. Natürlich, ich hatte Bilder gesehen, Reportagen, aber das war nichts im Vergleich dazu, es selbst vor Augen zu haben.
Im 10 . Bezirk kletterten inmitten der Brachen, die die Gleise säumten, Kinder auf dicken bunten Betonringen herum. Mir fiel die kleine Grünanlage wieder ein, in der ich als Kind gespielt hatte, die Frauen, die mit verhärmten Gesichtern auf den Bänken saßen und beim Lächeln kaputte Zähne enthüllten. Komischerweise löste das Bild in mir weder Angst noch Ekel aus, nur eine leise Wehmut, ein flüchtiges Gefühl von Heimat – da kommst du her .
Chauvigny ist eine neue Stadt, die komplett um das Gefängnis herum errichtet worden ist. Von den Bahngleisen abgesehen, führt kein Weg dorthin, was eine lückenlose Verkehrsüberwachung ermöglicht und das Risiko eines Überfalls senkt. Ich fand das beruhigend. Der Zug fuhr planmäßig um 9 . 36 Uhr im Bahnhof ein. Sobald die Türen aufgingen, sprang ich hinaus. Die ältliche Frau und das kleine Mädchen stiegen ebenfalls aus. Für Oktober war es erstaunlich warm. Vielleicht lag es auch nur an meiner Aufregung. Ich zog meinen Mantel aus und machte mich auf den Weg.
Das Gefängnis zu finden war nicht schwer – das Gebäude ist so hoch und gewaltig, dass man es von allen Ecken und Enden der Stadt aus sieht. Außer einigen Fußgängern, die wie ich die Strafanstalt ansteuerten, war niemand auf der Straße – als hätten die Bewohner ihre Stadt fluchtartig verlassen oder sich allesamt zu Hause versteckt. Das sollte mir recht sein – je weniger Leute, desto besser die Stimmung.
Ein Sicherheitskordon dämmte die Besucherschlange ein, in die ich mich einreihte. Ich musste lange warten. Das störte mich nicht. Ich wartete schon seit Jahren. Da fielen ein paar Stunden mehr oder weniger nicht ins Gewicht.
Als ich endlich drankam, war bereits Mittag vorbei. Ohne mit der Wimper zu zucken, stellte ich mich vor den Automaten. Ich wusste, was ich zu tun hatte.
»Ihre Papiere, bitte.«
Ich hielt ihm meinen Ausweis vor die Augen.
»In Ordnung, Mademoiselle K. Wenn Sie mir jetzt bitte Ihr Anliegen nennen würden.«
»Ich möchte Zugang zu den öffentlichen Besuchszimmern.«
»Beliebig oder personenbezogen?«
»Personenbezogen.«
»Wenn Sie mir bitte den Namen der fraglichen Person nennen würden.«
»Moïra Steiner.«
»Wenn Sie mir den Namen bitte buchstabieren würden.«
»S-T-E-I-N-E-R.«
Der Automat rührte sich eine Weile nicht, während er seinen internen Speicher durchforstete.
»Moïra Steiner ist nicht mehr bei uns. Ihre Haft endete am 22 . März 2102 «, leierte er mit monotoner Stimme, die perfekt zu seinem gekünstelten Lächeln passte.
»Heißt … heißt das, sie hat nicht ihre gesamte Strafe verbüßt?«
»Richtig, Mademoiselle.«
Das verschlug mir zunächst die Sprache. Dann stammelte ich hilflos:
»Wie …
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