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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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wird dich noch ein paar Tage ruhigstellen.«
    »Meine Mutter …«
    Er verzog das Gesicht.
    »Sei still, Lila.«
    »Meine Mutter ist tot!«
    »Ich weiß. Aber sei jetzt still. Du musst dich schonen.«
    Ich war ohnehin zu erschöpft, um ihm zu widersprechen. Ich schloss die Augen und versank wieder einmal im Dämmer.
    Eine ganze Woche haben sie mich in diesem Schwebezustand belassen. Und das hatte durchaus sein Gutes. Fernand kam mich jeden Tag besuchen. Er setzte sich zu mir ans Bett und legte die Hand neben meine. Manchmal versuchte ich zu sprechen, aber mein Mund schien vollständig verklebt und meine Zunge mit meinem Gaumen verschweißt zu sein. Fernand flüsterte mir zu: Sag nichts. Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um alles.
    Er hat sich in der Tat um alles gekümmert: Er hat in der Bibliothek Bescheid gesagt, meine Farne gegossen, meinen Kühlschrank ausgeräumt und meine Rechnungen bezahlt. Doch als er den Kater zu sich nehmen wollte, konnte er ihn nicht finden. Pascha war durch das offene Fenster geflohen und bislang nicht heimgekommen. Fernand bewahrte die Ruhe: Dank seines Peilsenders finden wir ihn jederzeit wieder. Wir müssen nur den Ablauf der gesetzlichen Frist abwarten, bevor wir die Suche in Auftrag geben. Danach ist es nur eine Frage von Stunden.
    Der Schmerz kehrte zurück, sobald sie die Sedierung herunterdosierten. Ich verlangte mehr, aber das wurde mir verweigert: Offenbar ließ sich die Behandlung in dieser Stärke nicht länger fortsetzen, ohne mich ernsthaft zu gefährden. Diese Schwachköpfe. Die Gefahren waren mir egal. Ich wollte bloß, dass der Schmerz aufhörte.
    Ich habe mich mit allen Mitteln gewehrt. Ich habe nach meiner Mutter geschrien, ich habe gebrüllt wie am Spieß, ich habe meine Laken nass geschwitzt, vollgekotzt und vollgepisst. Vergebens. Sie haben alles sauber gemacht, meine Gurte fester gezogen und die Tür geschlossen, damit mein Gebrüll nicht im ganzen Stockwerk zu hören war.
    Ich habe Fernand bekniet, sich dafür einzusetzen, dass sie mich wieder richtig betäubten. Doch anstatt mir wie erwartet zu helfen, lehnte er mit derselben Begründung ab. Es sei zu gefährlich. Er machte mit ihnen gemeinsame Sache, das war offensichtlich.
    »Dann bitte sie wenigstens, meine Gurte zu lockern!«
    »Das kann ich nicht, Lila.«
    »Warum werde ich überhaupt festgeschnallt?«, brüllte ich.
    »Um dich zu beschützen.«
    »Wovor?«
    »Vor dir selbst. Immerhin hast du einen Selbstmordversuch unternommen.«
    »Das ist nicht wahr!«
    »Ein ganzes Fläschchen Anxiolytika zu schlucken spricht eine deutliche Sprache.«
    »Das haben Sie falsch verstanden! Ich wollte nicht sterben, nur aufhören.«
    »Womit aufhören?«
    »Mit dem Leiden.«
    »Hör zu, Lila, das ist nicht verhandelbar: Zurzeit müssen wir dich hierbehalten, im Krankenhaus. In der Psychiatrie, um genau zu sein.«
    »Fernand, ich flehe Sie an, bringen Sie mich hier raus!«
    »Kommt nicht in Frage«, entgegnete er traurig.
    Es war eine schwere Zeit. Meist war ich allein mit meinem unsagbaren Schmerz, mit der Erinnerung an diesen Friedhof, an die endlosen Gräberreihen, und mit dem Bild meiner Mutter, meiner toten Königin, meines gefallenen Engels. Mein ganzes Leben zerschellte an diesem Bild.
    Solange ich mir hatte vorstellen können, dass sie lebte, dass sie wo auch immer atmete, hatte das Ganze einen Sinn, hatte ich ein Ziel gehabt: meine Mutter wiederzufinden, zu ihr vorzudringen. Nun klaffte in meiner Existenz eine gähnende Leere. Ich hatte nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund wollte ich noch nicht aufgeben.
    Nachdem ich tagelang darüber nachgedacht hatte, pausenlos an mein Bett gefesselt, begriff ich schließlich, warum: Ich wollte nicht sterben, ohne zu wissen, was mir geschehen war. Ich wollte das nicht einfach hinnehmen. Ich wollte unbedingt erfahren, warum meine Mutter mir das angetan hatte, obwohl sie mich so sehr liebte. Darauf hatte ich gehofft, als ich nach Chauvigny fuhr: auf eine erste Antwort, auf den Beginn einer Erklärung.
    Da sie nun tot war, wusste ich nicht so recht, wie ich es bewerkstelligen sollte, aber ich wollte es trotzdem probieren, Zeugen finden, Berichte, Protokolle. Ich wollte noch ein bisschen weiterkämpfen. Wenn ich die Antworten erst einmal hätte, könnte ich mir immer noch überlegen, ob ein Weiterleben die Mühe wert war.
    Von da an habe ich mich ganz ruhig verhalten. Ich habe meine Trauer so gut wie möglich verdrängt. Ich habe

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