Die Ballade der Lila K
Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«
»Worauf Sie sich verlassen können, Milo. Ich bin das gewohnt.«
Danach haben wir uns eine ganze Weile angesehen, ohne ein Wort zu sagen. Bis Sie schließlich fragten:
»Sie werden wohl nicht in die Bibliothek zurückkehren?«
»Nein, ich habe gekündigt. Ich musste. Es war Bestandteil des Tauschhandels für meine … Freilassung.«
»Sie haben das Richtige getan. Ihre Entlassung aus dem Krankenhaus war diesen Einsatz wert. Und jetzt muss ich leider gehen.«
»Wann sehe ich Sie wieder?«
»Das kann ich nicht sagen, Lila. Es ist alles so ungewiss.«
»Fahren Sie bald wieder weg?«
»Gleich heute Abend.«
»Und wenn Ihnen die Rückkehr verwehrt bleibt?«
»Dann kommen Sie zu mir in die Zone. Das würden Sie doch tun, Lila?«
»Ja, natürlich.«
Und das war ehrlich gemeint, Milo. Ich fühlte mich dazu in der Lage.
Ich weiß auch nicht, was mich danach geritten hat – die Dankbarkeit vielleicht oder die Verzweiflung, weil wir uns trennen mussten –, jedenfalls gab ich einem nie gekannten Impuls nach und habe mich an Sie geschmiegt. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Sie haben mich in die Arme geschlossen, und das Gefühl war so stark, dass es mir Angst eingejagt hat. Aber ich konnte mich dem nicht mehr entziehen. Ich senkte die Lider und ließ es geschehen.
Ihre Lippen auf meinen Haaren, meinen Schläfen, meiner Stirn erregten bei mir keinen Ekel, Milo, ganz im Gegenteil. Es fühlte sich schöner an, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Ich erschauerte. Die letzten Liebkosungen lagen für mich schon so lange zurück. Als Ihr Mund auf meinen traf, habe ich die Lippen geöffnet, ohne Abscheu, ohne Vorbehalt. Es war eine Art Wunder. Ich fühlte, wie das Blut in meinen Adern pulsierte, fühlte jeden Herzschlag, Ihre Haut, Ihre Zunge, Ihren Atem, die Wärme, die wir gemeinsam erzeugten, und zum ersten Mal seit Jahren hatte ich den Eindruck … lebendig zu sein. Ja, endlich lebendig.
Als Sie mich losließen, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich mochte nicht glauben, dass es schon wieder vorbei war.
»Man wartet auf mich. Ich kann mir keine Verspätung erlauben. Das verstehen Sie doch?«
»Natürlich.«
Ich zupfte den Kragen Ihres Mantels zurecht. Ich hatte immer noch das intensive Bedürfnis, Sie zu berühren. Als ich dieses Seidig-Weiche an Ihrem Hals ertastete, zog ich den Kragen zur Seite. Da sah ich den Schal.
»Sie wollten ihn ja nicht mehr, und ich fand ihn so schön … Ich konnte ihn einfach nicht wegwerfen. Sie sind mir deswegen hoffentlich nicht böse?«
Ich schüttelte den Kopf. Tränen stiegen mir in die Augen.
»Nein, gar nicht. Sie haben das Richtige getan. Er steht Ihnen sehr gut. Ich glaube, niemand … niemandem würde er besser stehen als Ihnen.«
Sie lächelten.
»Jetzt muss ich aber wirklich los. Könnten Sie bitte noch eine Viertelstunde warten, bevor Sie sich ebenfalls auf den Weg machen?«
Ich nickte.
»Auf Wiedersehen, Lila.«
»Auf Wiedersehen, Milo. Seien Sie vorsichtig.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Bis bald!«
Ich habe Ihnen nachgeblickt, als Sie mit gesenktem Kopf und den Händen in den Taschen weggingen. Selbst im Laternenlicht waren Sie kaum zu sehen, als würde die Finsternis Sie bereits verschlingen. Das Bild hatte etwas so Endgültiges an sich, Milo, dass ich mir sagte, nein, das ist nicht das letzte Mal gewesen. Verrückt, wie die Hoffnung sich immer wieder Bahn bricht.
Die Akte Moïra
Sie wurden noch am selben Abend festgenommen, als Sie die Grenze mit falschen Papieren passieren wollten. Das habe ich am Tag danach von Fernand erfahren. Einer seiner guten Freunde im Ministerium hatte ihn informiert.
»Keiner versteht, warum er intra muros zurückgekehrt ist, nachdem es ihm gelungen war, in der Zone unterzutauchen. Da hätte er gleich ins offene Messer laufen können! Um das zu riskieren, muss er schon sehr gute Gründe gehabt haben. Welche, werden die Ermittler des Ministeriums bald aufdecken. Sie wissen genau, wie man die Leute zum Reden bringt.«
Fernand bemühte sich zwar um einen sachlichen Ton, aber seine Miene drückte eine geradezu widerwärtige Genugtuung aus.
»Ich hatte dir ja gesagt, dass er bald Ärger bekommen würde. Und jetzt ist es sogar schneller passiert als gedacht!«
Er ließ ein kurzes, nervöses Lachen hören, gleichsam ein Aufblitzen von Schadenfreude. Das war die Stunde seines ruhmreichen Siegs. Ich sprang auf und rannte ins Bad, um mich zu übergeben.
Während ich mir
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