Die Ballade der Lila K
hatten mich so nachdrücklich gebeten, es nicht zu tun, dass ich es seinließ. Ich wartete einfach, während meine Angst zusehends wuchs.
Am 8 . Dezember teilte mir Fernand mit, dass das Ministerium soeben einen Haftbefehl gegen Sie erlassen hatte, wegen Strafvereitelung.
»Er sollte in einem Fall von Dokumentenschmuggel aussagen. Er hat der Vorladung nicht Folge geleistet.«
»Das kann er auch gar nicht, weil er gerade auf Dienstreise in der Zone ist!«
»Er ist nicht auf Dienstreise, Lila, er ist auf der Flucht – so heißt es jedenfalls im Ministerium. Und er wird garantiert Ärger bekommen, sollte er jemals wieder einen Fuß intra muros setzen.«
Am nächsten Vormittag traf Lucrezias Botschaft ein:
Liebe Lila,
längst schon wollte ich Ihnen schreiben, dass ich oft an Sie denke. Ich hoffe, Sie erholen sich von allen Strapazen und dass wir Sie bald wieder in der Bibliothek begrüßen dürfen.
Ich wünsche Ihnen rasche Genesung und grüße Sie herzlich,
Ihre Lucrezia
Diese Zeilen hatte ich so heftig herbeigesehnt, doch als sie nun auf meinem Bildschirm erschienen, lösten sie bei mir Panik aus. Ich konnte nicht glauben, dass Sie zurückgekehrt waren. Angesichts der Gefahren, die Ihnen drohten, war das aberwitzig.
Liebe Lucrezia,
danke für Ihre freundlichen Worte, über die ich mich sehr freue. Ich weiß jeden Ihrer Gedanken zu schätzen und werde sie im Gedächtnis bewahren.
Inzwischen bin ich vollkommen genesen. Leider sehe ich mich aufgrund gewisser Umstände gezwungen, meine Stelle in der Bibliothek aufzugeben. Ich bedaure das zutiefst, aber ich wurde vor eine schwierige Wahl gestellt.
Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute. Geben Sie auf sich acht.
Herzlich,
Lila
Gegen halb sieben bin ich aufgebrochen. Ich hatte Ihre Anweisung nicht vergessen und nahm mir genug Zeit, um Tausende Umwege zu gehen und meine Spuren bestmöglich zu verwischen.
Als ich um kurz vor acht die Sackgasse erreichte, waren Sie bereits da. Sie hatten sich einen Bart wachsen lassen. Ihre Haare waren länger und Ihre Falten deutlicher ausgeprägt. Aber das waren immer noch unverkennbar Sie.
»Warum sind Sie zurückgekommen, Milo? Das ist doch Wahnsinn!«
»Die Freude ist ganz meinerseits.«
»Und jetzt reißen Sie auch noch Witze! Dabei schweben Sie in großer Gefahr!«
»Keine Angst. Sie haben nichts gegen mich in der Hand.«
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass man Sie auch ohne triftige Gründe in Haft nehmen kann! Warum gehen Sie ein solches Risiko ein?«
»Weil ich intra muros etwas zu erledigen hatte. Ein wichtiges Treffen mit einer bildschönen jungen Frau an einem verschwiegenen Ort. Die Art von Rendezvous, die man um keinen Preis verpassen möchte.«
»Das ist nicht lustig!«
»Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen im Krankenhaus versprochen habe?«
Ich schwieg.
»Ich habe doch versprochen, Ihnen zu helfen, wissen Sie noch?«
Sie zogen eine Lamellette aus Ihrer Tasche.
»Was ist das, Milo?«
»Geben Sie mir Ihre Hand.«
Sie haben mir die Lamellette in die Hand gedrückt und sanft meine Finger darum geschlossen, wie zu einer Faust.
»Die Akte Ihrer Mutter.«
Das war so unverhofft und selbstverständlich, dass ich zu zittern anfing.
»Wie haben Sie das geschafft?«
»Ich habe Mittel und Wege gefunden.«
»Aber dazu bestand nicht die geringste Möglichkeit!«
»Offenbar doch. Wie Sie wissen, Lila, habe ich tatsächlich einige Feinde, aber ich habe auch viele Freunde.«
»Das hätte ich nie zu hoffen gewagt. Ich kann es gar nicht fassen. Wie soll ich Ihnen danken?«
»Indem Sie Antworten finden auf die Fragen, die Sie quälen. Indem Sie Ihre Trauer bewältigen.«
Ich nickte verhalten.
»Ich wünsche von ganzem Herzen, dass es Ihnen gelingt. Danach sollten Sie anfangen zu leben.«
Ich senkte wortlos den Blick, weil ich im Grunde noch nicht wusste, wie es danach weitergehen sollte. Ich öffnete die Faust und fragte, den Blick auf die Lamellette gerichtet:
»Bis wann soll ich sie Ihnen wiedergeben?«
»Sie können sie behalten, es handelt sich um eine Kopie. Aber verstecken Sie sie immer sorgfältig. Lesen Sie sie so unauffällig wie möglich, ohne sie jemals auf Ihrem Grammabook zu speichern. Und vernichten Sie sie umgehend nach der Lektüre. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, was Ihnen blüht, falls man die Lamellette bei Ihnen entdeckt. Es tut mir leid, dass ich so drastisch werden muss, aber ich möchte Ihnen die Risiken so deutlich vor Augen führen, dass Sie alle nötigen
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