Die Ballade der Lila K
ging zum Fenster, öffnete es einen Spalt, dann steckte ich die Hand hindurch und zog die Lamellette aus dem Farnkasten. Anschließend gab ich vor, auf die Toilette zu gehen – das würde bei meinen Bewachern keinen Argwohn erregen, sollte ich gerade kontrolliert werden.
Im Wandschrank wartete bereits mein Grammabook. Langsam ließ ich die Tür aufgleiten und legte mich hinein, in die wohlige Dunkelheit. Sobald die Tür voll und ganz geschlossen war, schob ich die Lamellette in das Gerät und fing an zu lesen.
Kurz vor Sonnenaufgang brach ich die Lektüre ab. Ich versteckte die Lamellette wieder in der Farnerde und ging ins Bett. Danach schlief ich nie mehr als zwei oder drei Stunden – länger zu schlafen wäre womöglich verdächtig erschienen. Mehr brauchte ich auch nicht.
Am späten Vormittag ging ich am Stadtrand joggen, zur Tarnung, damit ich sagen konnte, ich hätte den Tag genutzt. Fernand nahm es zufrieden zur Kenntnis:
»Gut, dass du wieder an die frische Luft gehst und joggst. Das ist gesund!«
Ja, gesund. Und was wollte ich mehr, als den Eindruck zu vermitteln, es ginge mir besser?
Jede Nacht verkroch ich mich in dem dunklen Wandschrank. Manchmal nahm ich eine Dose Pastete mit – ich hatte noch ein paar übrig, die ich mir für besondere Gelegenheiten aufsparte, wenn die Lektüre zu hart zu werden drohte.
So lief es fast ein ganzes Jahr. Diese Zeit habe ich gebraucht, um die 6765 Seiten der Akte meiner Mutter zu lesen. Hunderte von Dokumenten: Gutachten, Zeugenaussagen, Protokolle, Gesundheitspass, Kontoauszüge, polizeiliches Führungszeugnis, Korrespondenz, Lebenslauf, Prozessunterlagen, Gefängnislogbuch, Autopsiebericht … Alles habe ich begierig gelesen, ohne das kleinste Schriftstück auszulassen, in der Hoffnung, dass dieser trockene und schmerzliche Lesestoff mir die ersehnten Antworten liefern würde. Meine Hoffnung hat sich erfüllt, Milo. Ich werde Ihnen erzählen, wie.
Die Akte beginnt mit einer Zeugenaussage, die am 3 . Mai ’ 69 im Polizeikommissariat von Cormeil-sur-Marne, 3 . Bezirk, aufgenommen wurde. Eine gewisse Marie Duncan, 28 Jahre alt, Putzfrau im Einkaufszentrum von Cormeil, erklärt, am Morgen des besagten Tages im Mülltonnenbereich des Zentrums ein Baby gefunden zu haben. Das Baby weiblichen Geschlechts war in eine rosa Decke eingewickelt, die Nabelschnur mit einem Schnürsenkel zusammengebunden. Es schien kerngesund zu sein.
Meine Mutter ist also ein Findelkind. Die soll es damals häufiger gegeben haben, unmittelbar nach der Grenzziehung und dem Mauerbau. Die Menschen hatten Angst vor der Zukunft. Überdies war es leichter, intra muros eine Wohnberechtigung zu erhalten, wenn man keine Kinder hatte.
Das Baby wurde ins Kinderheim des 3 . Bezirks gebracht, unweit seines Fundortes. Am 4 . Mai wurde es unter dem Vornamen Moïra beim Standesamt angemeldet. Ein Familienname wurde, wie in diesen Fällen üblich, nicht eingetragen.
Seltsamerweise hatte ich mir nie vorgestellt, außer meiner Mutter eine Familie zu haben. Nie hatte ich daran gedacht, dass ich irgendwo Onkel, Tanten, Großeltern haben könnte. Für mich gab es nur sie. Und mein Gefühl hatte mich nicht getrogen: Lila K, der Vater unbekannt, die Mutter ein Findelkind. Mein Stammbaum ist zugegebenermaßen recht dürftig. Zwei abgeschnittene Zweige. Das Schicksal ist mit der Heckenschere nicht gerade zimperlich umgegangen.
Meine Mutter hat ihre ersten fünfzehn Lebensjahre im Kinderheim von Cormeil verbracht, ohne weiter aufzufallen. Ihren Zeugnissen nach ist sie keine gute Schülerin, zeigt aber eine musikalische Begabung, insbesondere für Gesang. Die Lehrer bescheinigen ihr, eine verträumte Einzelgängerin zu sein. Sie weisen auf Konzentrationsprobleme hin.
’85 führt die Neustrukturierung der Fürsorgeinstitutionen zu einer Fusion von verschiedenen Heimen. Sämtliche Zöglinge von Cormeil werden nach Grigny im 5 . Bezirk verlegt. Meine Mutter ist 16 Jahre alt. In den Gutachten der Psychologen und Erzieher ist von Essstörungen und einer Tendenz zur Abkapselung die Rede, es wird aber auch betont, dass sie die Heimregeln problemlos befolgt. Ihre schulischen Leistungen sind immer noch schwach, außer im Fach Gesang, wo sie von ihren Lehrern in den höchsten Tönen gelobt und ermutigt wird.
Unter den Dokumenten im Anhang finde ich diese Notiz meiner Mutter vom Juni ’ 85 :
Moïras Liste mögliche Mütter und Väter. Darunter folgen ein Dutzend Namen von Schauspielerinnen und Berühmtheiten, bei
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