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Die Ballade vom Fetzer: Historischer Roman (German Edition)

Die Ballade vom Fetzer: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Ballade vom Fetzer: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Röhrig
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zur Tür und wieder zurück zur Wand.
    Am Abend des Allerheiligentages, des 1.   November 1796, fiel Mathias ein, dass er zwar alle Wände, den Boden und die Tür nach schadhaften Stellen abgetastet, die Decke aber noch nicht untersucht hatte. Der Raum war hoch. Mathias stellte sich auf die Schultern des Deutzer Michel, aber er konnte die Decke nur mit den Fingerspitzen berühren. Die Glocke des nahen Jesuitenklosters schlug gerade neun Mal, erst um Mitternacht würden die Wachen den nächsten Kontrollgang machen. Die beiden häuften alles faulige Stroh, das in der Zelle lag, in eine Ecke, und der stämmige Michel stellte sich darauf Mathias stieg wieder auf seine Schultern und konnte jetzt die lehmverkleisterten Bohlen mit den Händen erreichen. Vorsichtig klopfte er mit dem Essnapf die Decke ab, bis er eine Stelle fand, wo der Lehm bröcklig war. Er brauchte gut eine Stunde, um ihn zwischen zwei Brettern loszukratzen. Dann klemmte er den Rand des Blechnapfes in den Spalt und lockerte eine der Bohlen. Jetzt stieg Mathias auf den Kopf des Gefährten. Der Deutzer Michel stöhnte, aber er schwankte nicht. Mathias schaffte es, das Brett ganz nach oben in den Raum über der Zelle zu drücken.
    Die nächste Bohle ließ sich leichter lösen. Der Spalt war breit genug, und Mathias zog sich durch die Lücke hinauf. Das Zimmer war leer bis auf einige herumliegende Lumpen. Mathias ließ die losen Bretter durch den Spalt in die Zelle hinab. Michel stellte sie schräg an die Wand, nahm drei Schritte Anlauf und versuchte, ein Stück an den Bohlen hochzulaufen. Nach dem zweiten Versuch gelang es ihm, die ausgestreckten Arme des Kameraden zu fassen. Mathias brauchte alle Kraft, um ihn zu halten. Langsam zog er ihn hoch, bis Michel selbst den Rand der Lücke fassen und in das Zimmer klettern konnte.
    Die beiden Räuber sahen aus dem schmalen Fenster. Direkt unter ihnen standen die Wächter um ein loderndes Feuer. Es war unmöglich, aus dem Fenster zu steigen, ohne gesehen zu werden. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Sie stiegen über die Treppe bis in den Oberturm.
    Schließlich standen sie an der riesigen Achse der Windmühle. Die dicke Eisenstange führte von dem schweren Zahnrad über dem Mahlwerk durch eine Öffnung bis hinaus zu den Windmühlenflügeln, die an ihrem Ende angeschraubt waren. Die Flügel waren festgesetzt. Die Öffnung war gerade groß genug, dann saßen sie hintereinander draußen auf der Achse. Der Wind heulte, und die leinenbespannten Mühlenflügel vor ihnen zerrten an den Halterungen. Tief unten flackerte das Feuer der Wache. Mathias kletterte auf einen der riesigen Flügel und riss zwei lange Bahnen aus der Bespannung. Auf dem Flügel, der nach unten zeigte, konnte er wie auf einer Leiter nach unten steigen. Am Ende verknotete er eins der Tücher an einer der Querstreben des Flügels, das andere wickelte er sich ganz um den Leib. Jetzt ließ er sich an dem verknoteten Tuch langsam weiter hinunter auf den Wehrgang gleiten. Wie einen Kreisel schaukelte und drehte ihn der Wind. Der Deutzer Michel kam ihm nach.
    Die beiden liefen um den Turm bis zu der Stelle, wo der Gang über die Stadtmauer hinausragte. Hier verknotete Mathias die zweite Leinenbahn. Er packte sie mit beiden Händen, schwang sich über die Brüstung und hangelte sich langsam abwärts. Der starke Wind drückte ihn immer wieder wie eine Puppe gegen die Mauer. Mühsam musste er sich mit den Füßen abstemmen, er kam nur langsam tiefer, doch dann prallte er wieder gegen die Steine. Halb benommen hing er an dem Tuch. Er hatte nicht mehr genug Kraft, sich noch einmal abzustemmen. Er sah nach unten. Noch sieben Meter, schätzte er. Ihm blieb keine Wahl. Mit letzter Anstrengung stieß er sich von der Mauer ab und ließ das Leinentuch los. Krachend stürzte er durch die Krone eines hohen Busches und schlug in den Morast vor der Mauer.
    Bis zu den Hüften steckte er in Kot und verfaultem Unrat. Sein ganzer Körper schmerzte. Mühsam wühlte er sich aus dem zähen Schlamm. In diesem Moment hörte er über sich einen wilden Schrei, ein Krachen, und dann schlug der Deutzer Michel neben ihm in den ekligen Morast, wie ein großer Stein. Die Wachen auf der anderen Seite der Mauer hatten den Schrei gehört. Sie gaben Alarm. Die beiden rafften sich auf Die Knochen taten ihnen weh. Sie kamen nur langsam voran. Bei jedem Schritt sanken sie in den stinkenden Schlamm. Endlich erreichten sie den nahen Erftkanal und warfen sich in das Wasser. Beide konnten

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