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Die Ballonfahrerin des Königs

Titel: Die Ballonfahrerin des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Douglas
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ihrer Zelle. Marie-Provence drehte den Kopf, konnte sie aber
     nirgends entdecken.
    «Marie-Provence Duchesne!»
    Marie-Provence blinzelte. Irgendjemand drückte ihren Arm, so fest, dass es weh tat. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute
     gen Himmel. Hoch, ganz hoch oben, kaum zu erkennen im dunkelnden Blau des anbrechenden Abends, zog ein Vogel seine Kreise.
    ***
    André bog von der rue Saint-Honoré ab. Er durchschritt das steinerne Tor, eilte über den Vorplatz, der das ehemalige Kloster
     der Jakobiner säumte, und hielt auf die frühere Klosterkirche zu. Ein eingezäunter Freiheitsbaum reckte seine staubigen Blätter
     in den abendlichen Himmel und warf einen langen Schatten auf die Grüppchen von Menschen, die sich vor dem sakralen Gebäude
     tummelten und diskutierten. Eine zehn Meter lange Fahnenstange, deren Spitze eine phrygische Mütze zierte, war an der Front
     der Klosterkirche angebracht worden. Sie mutete wie eine riesige Sonnenuhr an, an der schlaff die Trikolore hing. Darunter
     befand sich der Haupteingang.
    Bis vor vier Jahren hatten in dem Gebäudekomplex noch an die sechzig Dominikanermönche gelebt, von den Parisern Jakobiner
     getauft. Diese hatten ihre Bibliothek an eine kleine |248| politische Gruppierung vermietet, die sich «Freunde der Verfassung» nannten. Die Gruppe, die vom Volk bald als Klub der Jakobiner
     bezeichnet wurde, tagte unter dem Dach der Kirche, zwischen Bücherreihen und unter einem Fresko mit einem streng dreinblickenden
     Sankt Thomas. Als das Kloster per Verordnung geschlossen wurde, zog der Klub, der inzwischen mehrere tausend Mitglieder zählte,
     in das geräumigere Erdgeschoss der Kirche um. Inzwischen hatte die Gruppe die Macht an sich gerissen. Während ihrer Sitzungen,
     die dem Publikum zugänglich waren, wurden Erlasse vorgeschlagen, Bittgesuche angehört, Minister kritisiert. Die Opposition
     – wie die Gruppe der Girondins, die vorrangig die Interessen der Provinzen gegen das übermächtige Paris vertrat – wurde mundtot
     gemacht. Seit über einem Jahr herrschte nun der Klub der Jakobiner über den Staatsapparat – und Robespierre über den Klub
     der Jakobiner.
    André kam nicht zum ersten Mal hierher. Zu Beginn der Revolution war er oft in der Stadt unterwegs gewesen, um der aufregenden,
     neuen Atmosphäre nachzuspüren. Und nicht selten war er dabei von seinem Bruder begleitet worden – rückblickend war es die
     Zeit in seinem Leben, in der Mars und er sich am besten verstanden hatten.
    Damals waren die Straßen von einer unglaublichen Mischung aus Altem und Entstehendem, aus Bewährtem und Gärendem gefüllt gewesen.
     Journalisten deklamierten die letzten Neuigkeiten von den Theaterbühnen, während das Publikum, das einen Augenblick zuvor
     noch einer klassischen Tragödie Beifall gespendet hatte, patriotische Lieder anstimmte. Priester ließen mit Inbrunst die Nation
     hochleben. Alles war in Bewegung. Männer mit gepuderten Perücken, Seidenstrümpfen und Halbschuhen grüßten überschwänglich
     Freunde mit kurzen Haaren, langen Hosen und Halstuch. Niemand war sich je sicher, den anderen am nächsten Tag wiederzusehen:
     Ein Teil der Aristokraten wanderte aus, weil es gerade in Mode war, der andere entdeckte seine patriotische Ader und zog in
     den Krieg, Arm in Arm mit dem einfachen Volk. In den kleinen Gassen hämmerten |249| die Handwerker, gekleidet in Uniformen der Nationalgarde, das Holz oder schnitten das Leder. Die Mönche rasierten ihre Haarkränze
     weg und beugten ihre spiegelglatten Schädel über die Zeitungen in den Cafés. Das Volk besichtigte neugierig und staunend die
     geöffneten Klöster, während sich die vertriebenen Nonnen mit leichtem Schwindelgefühl in dieser neuen bunten, lauten Welt
     umsahen.
    Schönheit und Schrecken, Triumph und Hass prallten allerorts aufeinander. Die Zeit war laut und schnell, und der zweiundzwanzigjährige
     André hatte sie genossen – bis die Massaker von 1792 dem Überschwang ein jähes Ende setzten. Das einfache Volk riss die Macht
     an sich, und die Zeit des Terrors begann. Die Vielfalt der Kostüme verschwand, nur noch Hosen und Mützen waren nunmehr erlaubt.
     Die Gesichter erstarrten, die Blicke wurden bohrend oder ausweichend, die Kragen hochgeschlagen. Die Menschen stürmten fortan
     nicht mehr durch die Straßen, sondern marschierten entweder in Kadenz oder huschten an den Häuserfronten entlang.
    André aber ging auf Distanz. Ihm waren die neuen Machthaber zu einfallslos

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