Die Ballonfahrerin des Königs
schon am nächsten Tag auf dem
Schafott. Er schlug die Tür zu und rannte los.
***
Marie-Provence setzte sich auf die Pritsche neben eine dunkelhaarige junge Frau. «Wie geht es dir heute?», fragte sie.
«Danke. Schon sehr viel besser, glaube ich», lächelte Thérésia Cabarrus und setzte sich im Stroh auf.
|243| Marie-Provence betrachtete sie prüfend. Die Bankierstochter war gestern vor Schwäche zusammengebrochen. Der helle, fast transparente
Teint ihrer Zellengenossin wies in der Tat etwas Farbe auf – soweit das diffuse Licht, das durch die vergitterten Fenster
fiel, eine solche Beurteilung überhaupt zuließ. Marie-Provence sah sich um, um sicher zu sein, dass die anderen Frauen in
ihrer Nähe nicht auf sie achteten. Leise sagte sie: «Hier, nimm. Es ist noch etwas Brot von gestern Abend.»
Thérésia warf einen gierigen Blick auf den harten Knust, schüttelte aber den Kopf. «Das kann ich nicht annehmen.»
«Du musst», sagte Marie-Provence fest. Ihr eigener Magen widersprach knurrend, doch sie ignorierte ihn. Die Zellengenossin
befand sich schon seit über drei Wochen in La Force und war bedenklich abgemagert.
Auf einmal ertönte Gervaises misstrauische Stimme. «Was tuschelt ihr beiden da?»
Marie-Provence drückte Thérésia das Brot in die Hand und stand auf, um die Essende vor den Blicken der vier anderen abzuschirmen.
«Seit wann ist es verboten zu reden?», fragte sie angriffslustig. Sie hatte der Schusterfrau die Sache mit dem Nachttopf nicht
verziehen.
«In meiner Zelle dulde ich keine Heimlichkeiten», gab die stämmige Frau zurück. «Nicht wahr, ihr anderen?» Macloire und Toinette
nickten. Die Dritte, eine alte Frau namens Martine, hockte wie immer in einer Ecke und murmelte Unverständliches.
«He, sie hat der anderen was zugesteckt!», schrie Toinette und schnellte auf.
«Rühr sie nicht an!», donnerte Marie-Provence.
«Wenn du was zu essen versteckt hast, wollen wir auch was davon», sagte Gervaise drohend. «Hier wird keiner bevorzugt!»
«Es ist Essen, das ich aufgespart habe. Ich kann es schenken, wem mir beliebt!»
«Durchsucht sie. Sie hat bestimmt noch mehr!», befahl Gervaise den zwei anderen.
|244| Marie-Provence stellte sich breitbeinig hin, um einen festeren Stand zu haben. Sie schloss die Fäuste. Die Erinnerung an die
nächtliche Leibesvisitation vor drei Tagen flackerte in ihr auf. So schnell würde sie es niemandem mehr erlauben, sie gegen
ihren Willen anzufassen.
Die zwei Frauen zögerten.
«Auf was wartet ihr? Packt sie endlich!», schrie Gervaise.
Marie-Provence wehrte sich mit all ihren Kräften, kratzte, biss, stieß mit Ellenbogen und Knien. Ihre Gegnerinnen, anfänglich
von ihrer Entschlossenheit überrascht, fassten sich und zahlten mit gleicher Münze zurück. Als sich auch noch Gervaise einmischte,
bekam Marie-Provence ihre Unterlegenheit bitter zu spüren. Schläge und Tritte hagelten auf sie herab. Sie hob die Hände, um
Gesicht und Kopf zu schützen, doch ein Faustschlag in die Seite ließ sie aufschreien. Ein greller, kaum auszuhaltender Schmerz
durchfuhr sie, sie stürzte und schmeckte Blut.
Eine kräftige Hand drückte ihr Gesicht in das faulende Stroh. «Na, jetzt bist du wohl nicht mehr so stolz, was?», zischte
Gervaise ihr ins Ohr.
Auf einmal dröhnte eine männliche Stimme. «Jetzt ist aber gut. Schluss, ihr Weiber! Raus mit euch! Promenadenzeit!» Es geschah
oft, dass die Wächter die Rangeleien innerhalb der Zellen durch das vergitterte Guckloch verfolgten, ohne einzuschreiten.
Aus dem Spektakel zogen sie eine verderbte Lust, und schon manches Mal hatte Marie-Provence die Männer Wetten abschließen
hören über den Ausgang einer Auseinandersetzung.
«Komm, Marie-Provence! Du musst an die frische Luft!» Thérésia wischte Marie-Provence das stinkende Stroh von Gesicht und
Haaren. Marie-Provence hatte Mühe, sich aufzurichten, doch es gelang ihr mit der Hilfe der jungen Frau. Beide stützten sich
gegenseitig, als sie aus der Zelle wankten.
«Schneller!», rief der Wärter und rasselte mit seinem Schlüsselring. «Da warten noch mehr!»
In dem Innenhof versammelten sich die weiblichen Gefangenen |245| unter der späten Nachmittagssonne. Grüppchen formierten sich, Neuigkeiten wurden ausgetauscht, Frauen aus verschiedenen Zellen
fielen sich in die Arme. Marie-Provence hatte Mühe, sich zu bewegen. Es gab kaum einen Körperteil, der ihr keine Schmerzen
verursachte. Ihr linkes Auge schwoll
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