Die Ballonfahrerin des Königs
Bestellungen immer nachkommen können.
«Kommt dein Vater heute noch, citoyen?», fragte der Lageraufseher. «War lange nicht mehr da.»
André schüttelte den Kopf. «Mein Vater hat sich entschlossen, in Zukunft etwas kürzerzutreten. Er wird jetzt immer weniger
hier sein.» Seit dem mysteriösen Unfall seines Sohnes war Angus entschlossener denn je, André enger an die Fabrik zu ketten,
und hatte sich dafür eine neue Strategie ausgedacht: Er ließ die Arbeit einfach liegen. André hatte zunächst mit Irritation
reagiert. Die letzten Tage jedoch war er seinem Vater dankbar gewesen, dass ihm so viele Pflichten aufgebürdet wurden. So
blieb fürs Grübeln keine Zeit mehr.
«Besuch für dich, citoyen.»
André sah sich um – und erstarrte. Eine hohe Gestalt hatte den weitläufigen Innenhof der Papierfabrik betreten. Andrés Muskeln
spannten sich unwillkürlich. Auch wenn schon drei Tage seit seiner Auseinandersetzung mit Marie-Provence vergangen waren –
er hatte nicht damit gerechnet, dass Guy de Serdaine ihn hier aufsuchen würde. Sie hat es ihm also erzählt, dachte er bitter.
Mit einem Blick schätzte er die Lage ein. Der heiße Hof stand voll mit Fässern und Lieferungen. |241| Außer dem Lageraufseher befanden sich noch zwei Burschen in der Nähe, die Waren für den Laden in der rue des Feuillades zusammentrugen.
Es war kaum anzunehmen, dass Serdaine in aller Öffentlichkeit tätlich werden wollte. Trotzdem wünschte André, er würde dem
sehnigen Mann nicht mit einem Arm in der Schlinge und in Hemdsärmeln gegenüberstehen.
Inzwischen hatte Serdaine den Innenhof durchquert. «Monsieur Levallois, ich muss mit Ihnen reden.»
André sah ihm in die Augen. «Bitte sehr.»
Serdaine blickte sich um. «Nicht hier. An einem Ort, wo wir ungestört sind.»
Andrés Anspannung wuchs. «Ich habe vor ein paar Tagen ein Gespräch mit Ihrer Tochter geführt, das in mir wenig Lust hervorgerufen
hat, mich mit Ihnen an einen solchen Ort zurückzuziehen, Monsieur. Zumindest nicht, solange ich in meinen Bewegungen derart
eingeschränkt bin.»
Guy de Serdaine warf einen kurzen Blick auf seinen Verband. «Marie-Provence hat mit Ihnen gesprochen?», fragte Serdaine. Er
fuhr sich über das Gesicht.
«Hat Sie Ihnen das nicht erzählt?», fragte André überrascht. Erst jetzt fiel ihm auf, wie fahl der Mann war.
«Nein. Ich habe seit drei Tagen nichts mehr von ihr gehört.» Er sah ihn fest an. «Bitte, Monsieur», drängte er. «Lassen Sie
uns reden. Wenn Ihnen jemals etwas an meiner Tochter gelegen hat …» Er brach ab.
Etwas Ungutes machte sich in Andrés Magen bemerkbar. Er wies mit dem unverletzten Arm in eine Richtung. «Kommen Sie.» Kurz
darauf standen sie sich in Andrés Büro gegenüber.
Kaum hatte André die verglaste Tür geschlossen, eröffnete Serdaine: «Meine Tochter ist vor drei Tagen verhaftet worden.»
André starrte sein Gegenüber ein paar Sekunden lang an. Äußerlich ruhig fragte er: «Was ist passiert? Ist sie erkannt worden?»
Serdaine begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu |242| laufen. «Sie ist denunziert worden», spuckte er aus. «Von einem gewissen Georges Bonardin, der ihr übelgenommen hat, dass
sie seine Frau vor seinen Schlägen schützen wollte.» Er fuhr durch sein hellbraunes Haar. «Seiner Frau Rosanne ist es nicht
gelungen, Marie-Provence zu warnen. Sie wurde selbst festgehalten, bis sie heute freigelassen wurde und mich benachrichtigen
konnte.»
«Kennt denn dieser Georges Bonardin die wahre Identität Ihrer Tochter? Wenn das Gericht nicht Bescheid weiß, besteht vielleicht
noch Hoffnung.»
«Hoffnung?», fragte Guy de Serdaine gedehnt. Ironie und Verachtung überlagerten für einen Augenblick die Angst auf seinem
Gesicht.
«Warum sind Sie zu mir gekommen?», fragte André mit fester Stimme.
«Ich habe zwar Verbindungen, aber sie reichen nicht aus, um jemanden aus La Force zu befreien. Ich habe mich über Sie erkundigt,
Monsieur. Mars Levallois ist doch Ihr Bruder?»
Mars. Natürlich. André griff zu seiner Jacke und seinem Hut. Als er bereits die Türklinke in der Hand hatte, fragte er: «Wann
soll der Prozess stattfinden?»
«Ich weiß es nicht.» Leise fügte Serdaine hinzu: «Hoffentlich nicht so bald.»
André drückte sich den Hut auf den Kopf. Er konnte dem Mann nur beipflichten. Eine Vorladung vor das Tribunal kam in neun
von zehn Fällen einer Verurteilung zum Tode gleich, und wer verurteilt war, stand in der Regel
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