Die Ballonfahrerin des Königs
André hing, bebte merklich. Tobte Marie-Provence dort oben etwa herum? Diesmal verkniff André
sich das Fluchen nicht. Verflixt, was war denn in sie gefahren?
«Runter! Ich will wieder runter! Holt mich hier raus!»
André wurde angst und bange um sie. Noch nie hatte er sie in einer solchen Panik erlebt. Verflucht, er hatte sie zu wenig
vorbereitet! Sie war völlig überfordert! In dem Moment flog etwas an André vorbei – ein Sandschleier. Sie hatte einen Sack
Ballast geöffnet. André hustete, wischte sich die Augen.
«Halt ein, Marie! So bewirkst du doch genau das Gegenteil!» Seine Augen waren voller Sand, er konnte kaum noch etwas erkennen,
ahnte aber, dass Marie-Provence einen Gegenstand nach dem anderen in alle Richtungen aus dem Korb warf. Einen Schuh. Eine
Decke. Ein langes Seil, das sich wie eine Schlange entrollte. Ein schneeweißes Kleid …
Ihr Kleid! Entsetzt begriff er, dass sie jede Kontrolle über sich verloren hatte – und dass er ihrer Hysterie hier unten völlig
ausgeliefert war.
«Haltet ein!», schrie jetzt auch er nach unten. «Holt uns wieder runter! Wir können so nicht fliegen!»
Im selben Augenblick holte einer der beiden Arbeiter mit einem Beil aus und hackte das verfangene Seil durch.
Das Seil, das Marie-Provence Cortey mit aller Kraft zugeschleudert hatte, war glücklich auf der richtigen Mauerseite gelandet.
Sobald der uniformierte Händler das angebundene Gewicht auf den struppigen Rasen hatte fallen sehen, war er hingelaufen, hatte
es bis zum donjon gezogen und dort das Seil festgezurrt. Jetzt übernahm die neue Verankerung die |384| Rolle der alten, die Assmendi und Saison gerade planmäßig durchtrennt hatten: Sie zog den Ballon gemächlich, aber unausweichlich
zum Turm.
Der Ballon passierte die Mauer. Marie-Provence warf einen Blick zurück auf den Zuschauerplatz, während sie kurz in ihrem Toben
innehielt, um sich die Hose anzuziehen, die sie mitgebracht hatte. Die Menschen starrten verwirrt und ängstlich in ihre Richtung.
«Hilfe! So tut doch was!», schrie sie gellend und warf noch ihren zweiten Schuh hinterher. In den nächsten Wochen würde sie
für hübsche Damentoiletten sowieso keine Verwendung mehr haben. Zufrieden bemerkte sie, dass Assmendi und Saison sich aus
dem Getümmel stahlen, ohne aufgehalten zu werden. Auch Cortey sammelte sein Bajonett auf und nahm Abstand, blieb aber in Sichtweite,
um notfalls eingreifen zu können.
In aller Hast streifte Marie-Provence ein Hemd über, das sie Andrés Garderobe entwendet hatte, zog Reitstiefel an und steckte
sich die Pistole in den Hosenbund. Dann griff sie zum Wurfanker.
«Marie, atme tief durch! Versuch, dich zu beruhigen!»
André klang äußerst besorgt, und sie konnte es ihm nicht verdenken. Reue, ihn in eine so scheußliche Lage gebracht zu haben,
durchzuckte sie. Doch sie rief sich sofort zur Ordnung: Du hast es so gewollt. Jetzt konzentrier dich auf das, was kommt!
Sie spähte angestrengt in die Richtung des sich langsam nähernden Bauwerks. Sie hatten sich in Corteys Keller große Mühe gegeben,
die Länge des Seils auszurechnen, die nötig sein würde, damit der Korb möglichst exakt auf Höhe der Zinnen anlangte. Alles
war darauf abgestimmt, der Knoten im ersten Seil, die Länge der neuen Verankerung. Doch ob ihre Berechnungen exakt waren,
würde sich erst jetzt herausstellen.
Der Ballon hing jetzt über dem Rasenstück. Nur noch wenige Meter! Dass die Höhe zumindest in etwa stimmte, konnte sie bereits
erkennen. Sie hatte einen guten Blick auf die Zinnen, die sich mit aufreibender Langsamkeit näherten. |385| Aber sie sah keine Menschenseele. Wo, um Himmels willen, blieb Charles?
Ein kurzer Blick nach hinten zeigte ihr, dass das Chaos auf dem Festplatz immer weiter zunahm. Die Tribüne war halb geleert,
und die aufgeregten Zuschauer hatten längst alle Absperrungen überwunden. Eine ohnmächtige Frau lag ausgestreckt im Gras.
Der grüngoldene Barras gestikulierte in die Richtung der Soldaten, die noch an der Mauer strammstanden. Ob er inzwischen verstand,
was hier oben vor sich ging? Hoffentlich nicht. Etwas mehr Zeit brauchten sie noch. Das Publikum zumindest schien ahnungslos.
Und das sollte auch noch möglichst lange so bleiben.
«Wir zerschmettern! Wir zerschmettern am Turm!», schrie sie aus Leibeskräften. Sie warf die Hände gen Himmel. «O Herr Jesus,
Mutter Maria, rettet uns!»
Noch immer kein Mensch im Laufgang. Sie bekam feuchte
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