Die Ballonfahrerin des Königs
alle größeren Städte großzügig umfahren und auch Dörfer gemieden.
Wohin sollte sie gehen? Sie entschied sich für einen unweiten Hügel, von wo aus sie hoffte, einen Überblick über die Umgebung
zu bekommen. Sicherheitshalber tastete sie noch einmal nach ihrer Pistole und setzte ihre müden Beine in Bewegung.
Stark verzweigte Eichen säumten den Weg, dazwischen hohe Ginsterbüsche und Kiefern, dicht genug, um einen Menschen zu verbergen.
Marie-Provence fühlte, wie leichtes Unwohlsein sie beschlich. Vielleicht hätte sie doch in der geschützten Kate bleiben oder
zumindest ihren Vater über ihr Ziel unterrichten sollen. Der Gedanke an Guy jedoch ließ sie wieder entschlossener ausschreiten.
Ihr Vater und dessen Verhalten waren es nämlich, über die sie in Ruhe nachdenken wollte.
Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie sich die Erinnerung an die albtraumhafte Szene wachrief: Ihr Blick, der |424| wieder und wieder die Reihen der Männer abtastete. Wo war er nur? Wo?
«Er wollte nicht mit, Marie.»
«Das ist nicht wahr! Er hatte gar keine andere Wahl als mitzukommen!»
Guy, der ihr tief in die Augen schaute.
«Er hasst uns, Marie. Kannst du es ihm verdenken? Unseretwegen hat er alles verloren. Sogar seine Ehre.»
«Ich glaube dir nicht! Er hat noch sein Leben! Und er ist zu klug, um es seiner Ehre wegen wegzuwerfen! Du verheimlichst mir
etwas!»
Die Schulter ihres Vaters, die ihre Schluchzer erstickte.
«Es tut weh, mein Mädchen, ich weiß. Doch du musst versuchen, ihn zu verstehen. Sosehr er dich auch geliebt haben mag – diesen
Flug wird er dir nie verzeihen.»
Guy, der nicht locker ließ, sie erbarmungslos drückte.
«Du weißt es auch, nicht wahr? Du musst nur noch den Mut finden, es dir selbst einzugestehen.»
War es so? War es wirklich so, wie ihr Vater ihr erzählt hatte? Das Eingeständnis schnürte ihr die Kehle zu, langsam und qualvoll:
Ja, so war es, Vater hatte recht. Sie wusste es, seit sie beschlossen hatte, André zu hintergehen, um Charles zu befreien.
Und wahrscheinlich hätte sie es auch längst akzeptiert, wenn … Sie schluckte. Ja, wenn der Brief nicht gewesen wäre. Eine Hoffnung. Eine lächerlich kleine Hoffnung, angesichts der Ungeheuerlichkeit
ihres Verrats. Aber immerhin eine Hoffnung.
Sie hatte ihr Ziel erreicht. Der Hügel erhob sich nicht einmal über die Wipfel der höchsten Bäume, doch er war nur mit hüfthohem
Buschwerk bewachsen, sodass einzig ein mächtiger Felsbrocken den Ausblick behinderte. Langsam umrundete Marie-Provence den
Fels und genoss die Weite nach der bedrückenden Enge der Kutsche und der Kate. Wald und Felder, die untergehende Sonne. Kaum
eine Behausung. Und hinten, ganz hinten am Horizont, ein schimmerndes Band.
Marie-Provence schirmte mit der Hand ihre Augen gegen |425| die tiefen Sonnenstrahlen ab und schaute angestrengt in die Richtung. Was konnte das sein? Eine Stadt? Ein großer See oder
gar – sie wurde unruhig – ein näher rückendes Heer, das vor blinkenden Bajonettspitzen strotzte? Sie unterdrückte das Verlangen,
sofort zur Kate zurückzulaufen und dort Alarm zu schlagen, und beschloss stattdessen, den Fels hinter sich zu erklimmen, um
einen besseren Ausblick zu bekommen.
Obwohl sie seit dem Flug wieder Röcke trug, war der Aufstieg nicht besonders schwer, da sie festes Schuhwerk anhatte. Als
sie den Gipfel erreichte, spähte sie erneut in die Richtung. Zu ihrer Erleichterung konnte sie ein Heer ausschließen. Zu zart
und fein waren die Lichtreflexe – auch eine Stadt kam wohl nicht in Frage. Aber dann … Auf einmal fing ihr Herz an, laut und schnell zu schlagen. Nein. Nein, das konnte nicht sein! Hastig machte sie sich an
den Abstieg. Stolperte, fing sich, rutschte den Fels hinunter, bis sie wieder auf dem Hügel stand.
«Marie!»
Sie fuhr zusammen. Ihr Vater stand plötzlich vor ihr. «Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was machst du hier ganz
allein in der Wildnis? Wenn dich die Wache nicht gesehen hätte …»
Sie hörte ihm nicht eine Sekunde lang zu. Baute sich wutschnaubend vor ihm auf. «Wo sind wir?»
Ihr Vater stutzte. «Wie bitte?»
Sie streckte einen Zeigefinger aus. «Siehst du das da, Vater? Weißt du, was das ist?»
Guy sah in die vorgegebene Richtung. «Ah», sagte er nur.
«Ist das alles, was dir dazu einfällt?», schrie Marie-Provence. «Das ist das Meer! Das Meer, Vater! Seit Wochen, Monaten sprichst
du davon, uns nach Osten zu bringen, und
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