Die Ballonfahrerin des Königs
ein schöner Tag werden.
Vorsichtig blies sie auf die Glut. Die ersten Schiffe legten |419| bei Dämmerung ab, und Rosanne musste immer früh aufstehen, damit ihre Gäste ein Frühstück bekamen, bevor sie abfuhren. Doch
sie war zeitiges Aufstehen gewöhnt, es hatte ihr noch nie etwas ausgemacht. Flink machte sie sich daran, ein paar Speisen
bereitzustellen. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab – und hielt inne, als ihre Finger über eine Wölbung strichen.
Marie-Provence’ Brief!
Rosanne zog ihn hervor. Seit Tagen trug sie ihn nun mit sich herum, und dementsprechend sah das Kuvert aus: Die Ecken waren
angeraut, das Papier geknickt. Bereits ein paarmal war Rosanne dabei gewesen, André die Nachricht zu überreichen, doch immer
wieder hatte sie es verschoben.
Der Grund dafür war Andrés Verhalten. Rosanne war erschüttert, wie sehr André sich seit Marie-Provence’ Verschwinden verändert
hatte. Sie mochte diesen Mann, den das Schicksal ihr einst vor die Füße gespült hatte. Und sie konnte nicht umhin, ihrer Freundin
wegen deren Rücksichtslosigkeit zu zürnen.
Für Rosanne waren Marie-Provence und André das perfekte Paar. André hatte ihre Freundin vergöttert, und Rosanne, von ihrer
eigenen bitteren Erfahrung gezeichnet, hatte sich von Herzen für Marie-Provence gefreut und immer wieder versucht, ihr bewusstzumachen,
wie viel Glück sie hatte. Vergeblich. Marie-Provence hatte ihren Geliebten betrogen und in eine lebensgefährliche Lage gebracht,
ehe sie spurlos verschwunden war. Zuvor aber hatte sie Rosanne mit ihrem Auftrag in einen Gewissenskonflikt gestürzt.
Rosanne wedelte mit dem Brief. Sie wusste nichts über dessen Inhalt. Doch egal, was in den Zeilen stand – sie würden André
nur noch mehr aufwühlen. Sie wusste, wie empfindlich Vertrauen war. War es erst einmal zerstört, so war es für immer. Auch
war Rosanne überzeugt, dass Marie-Provence und André keine Zukunft mehr miteinander hatten. Wäre es also nicht besser, den
Brief zu vernichten? André zu helfen, über seine Enttäuschung hinwegzukommen und einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen?
Rosanne näherte sich dem munter flackernden Feuer. Den |420| Brief noch immer in der Hand, kniete sie vor dem Kamin nieder.
«Was hast du da?»
Rosanne sah hoch. Dorette stand vor ihr. Warum hatte sie die alte Frau nicht kommen hören?
«Was ist das? Ein versiegelter Brief?» Dorette nahm ihn Rosanne ab und warf einen Blick auf das Kuvert. Sie deutete mit dem
Kinn in Richtung Decke. «Er ist für ihn, oder? Warum übergibst du ihn dann nicht?»
Rosanne befürchtete, Dorette würde die Situation falsch deuten und die Röte auf ihren Wangen für Schuldbewusstsein halten.
«Weil der Mann mich dauert», erklärte sie hastig. «Weil der Brief nichts vermag, als das Leid zweier Menschen zu verlängern,
die ihr Glück verspielt haben.»
«Das musst du sie schon selbst herausfinden lassen, mein Mädchen», sagte Dorette mitfühlend. «Du hast Schlimmes durchlebt,
und es verlangt viel Größe, anderen eine Chance zuzugestehen, die man selbst nicht bekommen hat.» Sie nahm Rosanne den Brief
aus der Hand. «Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die beiden noch einmal zueinanderfinden. Und auch wenn nicht: Du wirst
es ihnen nicht ersparen können, ihre eigenen Erfahrungen zu machen.»
Rosanne sah die Alte an. Nach einer Weile fragte sie: «Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie froh ich bin, dass du bei
mir wohnst?» Und ein erleichterter Seufzer entfuhr ihrer Brust.
«Ich glaube, so etwas hat überhaupt niemand jemals zu mir gesagt», lachte Dorette.
Rosanne tätschelte die Wange der Alten. Während sie die Stufen nahm, um André den Brief zu überbringen, überkam sie ein Gefühl
inneren Friedens.
***
Charles’ geschwollene Hand zwängte sich in den kleinen Taubenkäfig. Seine Finger verteilten ungeschickt die Weizenkörner.
Sofort trippelte der Vogel heran, zwängte sich an der |421| Kinderhand vorbei und machte sich über das Getreide her. Marie-Provence hielt gespannt den Atem an. Doch Charles zog den Arm
zurück und schob den Riegel vor den Käfig.
«Warum streicheln Sie den Vogel nicht?», entfuhr es Marie-Provence enttäuscht. Aber Charles sah sie nur schweigend an. Sie
seufzte unmerklich − wieder eine Frage, auf die sie keine Antwort erhalten würde.
Die Stimmen ihres Vaters und seiner Männer, die am anderen Ende der Hütte um die Feuerstätte lagerten, drangen zu ihnen
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