Die Ballonfahrerin des Königs
Tochter an, jede Stunde einmal, und zudem jedes Mal, bevor
du sie der Amme gibst. Das wird den Milchfluss anregen. Deine Tochter soll nur |508| von der Amme trinken, was ihr fehlt. Irgendwann in den nächsten Tagen wirst du wieder genug für sie haben.»
Marie-Provence kroch aus dem Unterstand heraus. Er bestand aus einer zwischen vier Pfosten aufgespannten Decke – ein annehmlicher
Schutz gegen die Sonne, jedoch ein wertloser bei schlechtem Wetter. Sie selbst und ihr Vater bewohnten zwei Zimmer bei einer
Fischerfamilie am Ende der Halbinsel. Die winzigen Räume waren karg und unbequem, aber verglichen mit dem hier lebte sie wie
eine Prinzessin. Marie-Provence streckte den steifen Rücken. Ihr Blick ging zum Himmel, glitt dann besorgt über die Reihen
der Notunterkünfte. Tausende von Frauen und Kindern drängten sich dicht an dicht. Wenn docteur Jomart nur hier wäre! Es war
nur eine Frage der Zeit, bis die unzureichende Ernährung und die mangelnde Hygiene für die erste Seuche sorgen würden.
Marie-Provence bestieg ihr Maultier und machte sich auf den Weg zum Fort. Seit sie auf Quiberon zurückgedrängt worden waren,
hatte sie es sich angewöhnt, jeden Tag einen Rundritt um die Halbinsel zu machen, um bei den Flüchtlingsfrauen nach dem Rechten
zu sehen. Sie floh das Nichtstun, eine sinnvolle Beschäftigung bewahrte sie vor allzu schmerzhaften Erinnerungen und Trauer.
Sie hatte, wie ihr nach einiger Zeit bewusst wurde, das Leben wieder aufgenommen, das sie in Paris geführt hatte – nur in
anderer Umgebung und ohne Jomart. Wie sie dessen ruhige zuverlässige Art vermisste! Zwar waren auf den Schiffen aus England
auch ein paar Ärzte mitgekommen, doch es waren Feldärzte, versiert darin, Glieder zu amputieren und Geschosse herauszuoperieren.
In Frauenheilkunde und mit Kinderkrankheiten hatten sie keine Erfahrung. Sie selbst hatte etliches im Waisenhaus gelernt,
doch es ersetzte nicht eine richtige Ausbildung.
Als sie am Fort ankam, ließ sie ihr Reittier im Stall zurück und machte sich auf die Suche nach ihrem Vater, der dort seinen
Dienst versah.
Wenigstens bekamen die Menschen alle die gleiche Ration. |509| Ein Aufschrei der Entrüstung war auf der Halbinsel laut geworden, als Hervilly verkündet hatte, den Chouans nur halb so viel
Essen austeilen zu wollen wie den ordentlichen Soldaten, ja, den Frauen und Kindern gar täglich nur vier Unzen Reis zu gönnen.
Selbst Puisaye, der seit dem Rückzug auf die Insel Hervilly die Zügel überlassen hatte, war so indigniert gewesen, dass er
sein Schweigen brach und den Befehl rückgängig machte. Obwohl inzwischen wieder Ruhe eingekehrt war, konnte Marie-Provence
diesen Vorfall nicht vergessen. Hervillys Wutausbruch, als die Chouans bei der Landung die Gewehre abgefeuert hatten, seine
Gleichgültigkeit gegenüber der Not der Verfolgten vor ein paar Tagen – all diese Vorfälle ließen sie ihr eigenes Lager zunehmend
kritisch beurteilen.
War es wirklich nur Hervilly, der durch seinen Egoismus alles vergiftete? Aber wenn dem so war, warum protestierte dann keiner?
Weshalb versteckte sich Puisaye, wieso hielt ihr Vater sie zurück, als sie Hervilly die Meinung sagen wollte? Hatten die Republikaner
vielleicht recht? War der Adel ein Geschlecht der Unterdrücker und Ausbeuter? Ging ihre Selbstsucht über Leichen? Vielleicht
hatte sie in Paris allzu lange ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben geführt. Vielleicht hatte sie es verlernt, sich anzupassen
und nach den Regeln ihrer Gesellschaft zu leben. Vielleicht waren aber auch diese Regeln falsch. Und mit ihr diese Gesellschaft.
Wie immer, wenn sie an diesem Punkt ihrer Überlegungen ankam, zuckte Marie-Provence erschrocken zurück. Diese Menschen waren
doch alles, was ihr blieb! Wenn sie mit ihnen brach, würde sie allein dastehen, und das machte ihr Angst.
«Wissen Sie, wo ich meinen Vater finden kann?», fragte sie einen vorbeieilenden Soldaten.
«Er ist oben, Mademoiselle. Auf dem vorderen Rundgang. Zusammen mit den anderen Offizieren.»
Marie-Provence runzelte die Stirn. «Alle Offiziere sind versammelt? Ist etwas passiert?»
«Am besten, Sie gehen selbst hoch. Manche sagen, es sei |510| nichts als Augenwischerei der Republikaner, um uns zu verunsichern. Aber wenn Sie mich fragen: Ich wüsste schon gerne, was
die da drüben jetzt alles von uns mitbekommen.»
Der Soldat salutierte und eilte weiter. Neugierig und unruhig zugleich beeilte sich
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