Die Ballonfahrerin des Königs
Adamsapfel bewegte sich, und sein Haaransatz war feucht. Marie-Provence empfand tatsächlich
so etwas wie Mitleid, als Croutignac sichtbar aufgewühlt fortfuhr: «Félicie war so stolz! Sie zuckte mit keiner Wimper, als
der Arzt ein Dreieck in die Haut ihrer beiden Oberarme ritzte. Und als die Wunde mit der verseuchten Flüssigkeit beträufelt
wurde, sah sie immer wieder zu dem Offizier in der weißen Uniform auf.»
Guy hatte die Lippen zusammengepresst. Er schüttelte langsam den Kopf, blieb aber stumm.
«Nach zehn Tagen bekam Félicie plötzlich hohes Fieber und Nasenbluten», stieß Croutignac mit verdächtig glänzenden Augen aus.
«Und sie erbrach alles, was sie zu sich nahm. Am nächsten Morgen tauchten rote Flecken in ihrem Gesicht auf. Dann erschienen
die ersten Pusteln. Caroline, meine Frau, wich nicht von ihrem Krankenlager. Nach drei Wochen lagen beide unter der Erde.»
Auf einmal war es still im Raum. Nur die Geräusche der Außenwelt drangen zu ihnen herein, erregte Stimmen, Rufe. Marie-Provence
achtete nicht auf sie. In ihr herrschte nur Staunen. Grenzenloses Staunen. «Deswegen verfolgten Sie Charles?», brach es aus
ihr heraus. «Deswegen haben sie ihn monatelang misshandelt? Wegen einer Behandlung, die Ihre Tochter nicht vertragen hat?»
Croutignac gab heftig zurück: «Das zügellose Benehmen dieses ungezogenen Balges war es, das überhaupt zu dem Unglück geführt
hat!»
«Mein Gott, er war ein kleiner Junge!»
«Ihn trifft auch nicht die größte Schuld.» Etwas in seinen Augen ließ Marie-Provence aufspringen. Sie stellte sich vor ihren
Vater.
«Ganz recht.» Auch Croutignac erhob sich nun, sein Ton |537| war unerbittlich. «Er ist der wahre Schuldige. Ohne seine Initiative wäre Félicie heute noch am Leben. Bisher sind Sie ungestraft
davongekommen, Serdaine. Doch das ist jetzt vorbei.»
«Ich bin Soldat, der Tod ist mein täglicher Gefährte. Ich fürchte ihn nicht.»
«Nein, das weiß ich. Aber Sie fürchten den Tod Ihrer Lieben, nicht wahr? Wie war es, als Sie erfuhren, dass Ihre geliebte
Frau enthauptet worden ist? Und wie, glauben Sie, wird es sein, wenn das Teuerste, was Ihnen bleibt, den gleichen Tod erleidet?»
Marie-Provence presste sich unwillkürlich gegen ihren Vater. Noch beherrschte sich Guy. Doch sie fühlte seine Anspannung,
fühlte, wie wild sein Herz schlug.
«In ein, zwei Tagen wird Ihre Tochter in Paris vor Gericht stehen, Serdaine. Und Sie werden dabei sein. Im Publikum. Es gibt
in der Hauptstadt viele Menschen, die ein Hühnchen mit der berühmten Marianne zu rupfen haben. Das Urteil steht außer Frage.»
Croutignac versuchte zu lächeln, sah aber nur wütend und traurig aus. «Bei der Vollstreckung bekommen Sie einen Logenplatz,
dafür werde ich sorgen. Und dann …», der Mann zuckte die Schultern, «… dann lasse ich Sie laufen.» Er baute sich vor Guy auf. «Sie staunen? Überlegen Sie doch: Warum sollte ich Ihre Qualen frühzeitig
beenden?» Er beugte sich vor, bis er Guy fast berührte. «Sie werden alles erleben, was ich erlebt habe. Die Schlaflosigkeit.
Die Verzweiflung. Die Einsamkeit. Die Sehnsucht nach dem Tod.»
Guy war sehr bleich. Ruhig, doch in einem Tonfall, der Marie-Provence einen Schauer über den Rücken jagte, sagte er: «Wenn
Sie das machen, bringe ich Sie um.»
Croutignac lachte auf. «Na und? Glauben Sie, ich fürchte den Tod mehr als Sie?» Auf einmal wandte er sich Marie-Provence zu.
«Jetzt hast du erfahren, was du wissen wolltest. Ich sehe dir an, dass du nicht alles verstehst, aber das ist egal. Dein Vater
wird sein Lebtag lang verfolgt werden von dem Wissen, dass er schuld ist am Tod seines einzigen Kindes.»
|538| «Wieso schuld?», fragte Marie-Provence. Auf einmal durchfuhr sie die Erkenntnis wie ein Blitz. «Das ist es, genau das ist
es!» Sie riss die Augen auf. «Sie fühlen sich schuldig an Félicies Tod! Auch wenn Sie es sich selbst nicht eingestehen!»
«Ich?», erwiderte Croutignac verblüfft. Er zeigte die Zähne, als wolle er beißen. «Das ist der größte Unsinn aller Zeiten,
Weib!»
«Sie glauben, Félicie nicht genug beschützt zu haben, richtig?», bohrte Marie-Provence.
«Nein!», rief Croutignac. «Ich habe keine Schuld!»
«Warum wehren Sie sich dagegen? Ihre Gefühle sind doch verständlich», sagte Marie-Provence schnell. «Die Eltern eines Kindes
sind schließlich an allererster Stelle für dessen Wohlergehen verantwortlich.»
«Was für ein Unsinn!
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